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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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aufzunehmen, und dreimal erschien ich nicht. Mein Cousin war ratlos. Er verfluchte den Mann, der ihm das Papier verkauft hatte, weil er glaubte, er habe ihm schlechte Qualität angedreht. Aber ich wusste, das war nicht der Fall. Ich wusste, wie andere ein Bein oder einen Arm verloren hatten, hatte ich verloren, was immer es sein mag, das Menschen unauslöschlich macht. Ich bat meinen Cousin, sich auf den Stuhl zu setzen. Er widerstrebte, aber schließlich willigte er ein. Ich machte ein Foto von ihm, und während wir das Papier im Entwicklerbad beobachteten, erschien sein Gesicht. Er lachte. Und ich lachte auch. Ich war derjenige, der das Bild aufgenommen hatte, und wenn es seine Existenz bewies, bewies es auch meine eigene. Ich durfte es behalten. Wann immer ich es aus der Geldbörse nahm und ihn ansah, wusste ich, dass ich in Wirklichkeit mich selbst ansah. Ich kaufte ein Album und klebte es auf die zweite Seite. Auf die erste tat ich das Foto meines Sohnes. Ein paar Wochen danach kam ich an einem Drugstore mit Fotoautomat vorbei. Ich ging hinein. Von da an ging ich jedes Mal, wenn ich etwas Geld übrig hatte, zu dem Automaten. Am Anfang war es immer das Gleiche. Aber: Ich gab nicht auf. Dann, eines Tages, bewegte ich mich versehentlich, als der Auslöser klickte. Ein Schatten tauchte auf. Das nächste Mal sah ich den Umriss meines Gesichts, und einige Wochen später mein ganzes Gesicht. Es war das Gegenteil von Verschwinden.
    Als ich jetzt die Tür des Fotoladens aufmachte, bimmelte eine Glocke. Zehn Minuten später stand ich auf dem Bürgersteig, vier identische Fotos von mir selbst in der zusammengepressten Hand. Ich sah sie mir an. Man konnte mich alles Mögliche nennen. Aber: schön nicht. Ich steckte eins in meine Geldbörse, zu dem Zeitungsbild von Isaac. Den Rest warf ich in den Müll.
    Ich blickte auf. Gegenüber war Bloomingdale’s. Ein- oder zweimal im Leben war ich dort gewesen, mir einen Spritzer Duft von den schönen Fräuleins an den Parfümständen zu holen. Was soll ich sagen, das hier ist ein freies Land. Ich fuhr mit der Rolltreppe rauf und runter, bis ich die Herrenanzüge im Untergeschoss fand. Diesmal sah ich zuerst nach den Preisen. Am Ständer hing ein dunkelblauer Anzug im Sonderangebot, herabgesetzt auf zweihundert Dollar. Es sah so aus, als könnte er passen. Ich nahm ihn mit in die Umkleide und probierte ihn an. Die Hose war zu lang, aber das stand zu erwarten. Das Gleiche mit den Ärmeln. Ich trat aus der Kabine. Ein Schneider mit einem Maßband um den Hals winkte mich aufs Podest. Ich ging darauf zu, und jeder Schritt erinnerte mich an damals, als meine Mutter mich zum Schneider geschickt hatte, die neuen Hemden meines Vaters abzuholen. Ich war neun, vielleicht zehn. In dem düsteren Raum standen die Büsten zusammengedrängt in der Ecke, als warteten sie auf einen Zug. Grodzenski, der Schneider, war über die Maschine gebeugt, der Fuß ließ das Trittbrett wippen. Ich beobachtete ihn, fasziniert. Jeden Tag verwandelten sich unter seinen Händen, mit den Büsten als einzigen Zeugen, graue Stoffballen in Kragen, Stulpen, Rüschen und Taschen. Willst du mal? , fragte er. Ich setzte mich auf seinen Platz. Er zeigte mir, wie man die Maschine zum Leben erweckte. Ich sah die Nadel auf und ab hüpfen, eine wundersame Spur blauer Stiche hinter sich lassend. Während ich das Trittbrett wippen ließ, brachte Grodzenski die in braunes Papier gepackten Hemden meines Vaters zum Vorschein. Er winkte mich hinter den Ladentisch und brachte noch ein anderes Päckchen aus dem gleichen braunen Papier zum Vorschein. Behutsam nahm er eine Illustrierte heraus. Sie war ein paar Jahre alt. Aber: in tadellosem Zustand. Er fasste sie mit spitzen Fingern an. Innen waren schwarz-silberne Fotos von Frauen mit zarter weißer Haut, wie von innen beleuchtet. Sie führten Kleider vor, wie ich sie noch nie gesehen hatte: Kleider ganz aus Perlen, aus Federn und Fransen, Kleider, die Beine, Arme, die Rundung einer Brust enthüllten. Ein einziges Wort schlüpfte Grodzenski von den Lippen: Paris . Schweigend blätterte er die Seiten um, und schweigend betrachtete ich sie. Unser Atem schlug sich darauf nieder. Vielleicht zeigte mir Grodzenski in seinem stillen Stolz den Grund, warum er bei der Arbeit immer irgendetwas summte. Schließlich klappte er die Illustrierte zu und schob sie ins Papier zurück. Er ging wieder an die Arbeit. Hätte mir damals jemand erzählt, Eva habe den Apfel nur gegessen, damit die Grodzenskis

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