Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
dieser Welt existieren konnten, ich hätte es geglaubt.
    Grodzenskis armseliger Abklatsch schwirrte mit Kreide und Stecknadeln um mich herum. Ich fragte, ob es möglich wäre, dass ich vielleicht wartete, bis er mit dem Säumen fertig sei. Er sah mich an, als hätte ich zwei Köpfe. Was glauben Sie, was für Berge da noch auf mich warten, und Sie wollen Ihren gleich? Er schüttelte den Kopf. Zwei Wochen Minimum.
    Er ist für eine Beerdigung , sagte ich. Mein Sohn . Ich suchte nach Halt. Langte nach meinem Taschentuch. Dann fiel mir ein, es war in meiner Hose, die zerknittert auf dem Boden der Umkleide lag. Ich stieg vom Podest und eilte in meine Kabine zurück. Ich wusste, ich hatte mich lächerlich gemacht in diesem Clownsanzug. Ein Mann sollte sich einen Anzug fürs Leben kaufen, nicht für den Tod. War es nicht das, was Grodzenskis Geist mir sagte? Ich konnte Isaac nicht peinlich sein, und ich konnte ihn nicht stolz machen. Weil er nicht mehr existierte.
    Und doch.
    Am Abend kam ich mit dem gesäumten Anzug in einer Kleidertüte nach Hause. Ich setzte mich an den Küchentisch und machte einen einzigen Riss in den Kragen. Am liebsten hätte ich das ganze Ding zerfetzt. Aber ich hielt mich zurück. Fischl, der zaddik , der ein Idiot gewesen sein mochte, hatte einmal gesagt: Ein einziger Riss ist schwerer zu ertragen als hundert Risse.
    Ich nahm ein Bad. Keine Katzenwäsche mit dem Schwamm, sondern richtig, in der Wanne, dass der dunkle Rand darin noch einen Schatten dunkler wurde. Ich zog den neuen Anzug an und holte den Wodka vom Regal. Ich trank einen Schluck und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, die Geste wiederholend, die mein Vater und sein Vater und seines Vaters Vater hundertmal gemacht hatten, die Augen halb geschlossen, während das Brennen des Alkohols das Brennen des Schmerzes tilgte. Und dann, als die Flasche leer war, fing ich an zu tanzen. Erst langsam. Aber schneller werdend. Ich stapfte mit dem Fuß und schwang die Beine hoch, dass die Knöchel knackten. Ich stampfte mit den Füßen, bückte mich und schleuderte die Beine hoch in jenem Tanz, den mein Vater und sein Vater getanzt hatten. Ich tanzte und tanzte, lachend und singend, während mir die Tränen von den Wangen liefen, bis meine Füße wund waren und Blut unter den Zehennägeln, tanzte so, wie ich nur irgend tanzen konnte: ums Leben, gegen Stühle krachend, kreiselnd bis zum Umfallen, damit ich aufstehen und weitertanzen konnte, bis der Morgen graute und mich ausgestreckt am Boden fand, dem Tod so nahe, dass ich ihm in den Rachen spucken und flüstern konnte: L’chaim .
    Ich erwachte vom Geräusch sich plusternder Tauben auf dem Fenstersims. Ein Ärmel des Anzugs war zerrissen, mir dröhnte der Kopf, auf der Wange getrocknetes Blut. Aber: Ich bin nicht aus Glas.
    Ich dachte: Bruno. Warum war er nicht gekommen? Aber wenn, hätte ich womöglich gar nicht auf sein Klopfen reagiert. Dennoch. Zweifelsohne hatte er mich gehört, es sei denn, er hätte seinen Walkman aufgehabt. Aber selbst dann. Eine Lampe war heruntergefallen, ich hatte alle Stühle umgeworfen. Ich wollte eben hochgehen und an seine Tür klopfen, als ich auf die Uhr sah. Schon Viertel nach zehn. Ich denke immer, die Welt sei nicht bereit für mich, aber in Wirklichkeit war ich vielleicht nie bereit für die Welt. Ich war immer zu spät dran im Leben. Ich rannte zur Bushaltestelle. Oder vielmehr, ich humpelte, zog Hosenbeine hoch, legte ein kurzes Hüpf-Hoppel-Halt-und-Keuch ein, zog Hosenbeine hoch, ging, schlurfte, ging, schlurfte und so weiter. Ich erwischte den Bus stadtaufwärts. Wir blieben im Verkehr stecken. Geht das Ding nicht etwas schneller? , sagte ich laut. Die Frau neben mir stand auf und setzte sich woandershin. Möglich, dass ich ihr auf den Schenkel geschlagen hatte in meinem Überschwang, ich weiß es nicht. Ein Mann in orangefarbener Jacke und Schlangenmusterhose stand auf und begann ein Lied zu singen. Alle wandten das Gesicht zum Fenster und sahen nach draußen, bis sie merkten, dass er kein Geld wollte. Er sang einfach nur.
    Als ich endlich in der schul ankam, war der Gottesdienst vorbei, aber es standen noch massenhaft Leute herum. Ein Mann mit gelber Fliege und weißem Jackett, das, was von seinem Haar noch übrig war, quer über den Schädel gesprayt, sagte: Natürlich wussten wir es, aber als es dann geschah, war keiner von uns darauf gefasst, worauf eine Frau, die neben ihm stand, erwiderte: Wer kann das schon sein? Ich stand allein neben

Weitere Kostenlose Bücher