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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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erkannte. Wenn mich jemand ansprach, musste ich erklären, dass ich kein Russisch kann. Ein alter Mann bot mir einen Wodka an. In dem Moment stürmte Misha aus der Küche, das an einen Verstärker angeschlossene Akkordeon umgeschnallt, und fing an zu singen. «You say it’s your birthday!», rief er. Die Menge blickte ängstlich. «Well it’s my birthday, too!», schrie er, und quietschend erwachte das Akkordeon zum Leben. Es ging über in «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band», dann in «Here Comes the Sun» und schließlich, nach fünf oder sechs Liedern, legten die Beatles mit «Hava Nagila» los, und die Menge tobte, alle sangen mit und versuchten zu tanzen. Als die Musik endlich aufhörte, kam Misha zu mir, das Gesicht gerötet und verschwitzt. Er nahm mich bei der Hand, und ich folgte ihm aus der Wohnung, den Flur entlang, fünf Treppen hinauf, durch eine Tür und aufs Dach hinaus. Man sah das Meer in der Ferne, die Lichter von Coney Island, und dahinter eine stillgelegte Achterbahn. Mir klapperten die Zähne, da zog Misha seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Sie war warm und roch nach Schweiß.
    8. БЛЯДЬ
Ich erzählte Misha alles. Wie mein Vater gestorben war und von der Einsamkeit meiner Mutter, von Birds unerschütterlichem Glauben an Gott. Ich erzählte ihm von den drei Bänden Wie man in der Wildnis überlebt , von dem englischen Lektor und seiner Regatta, von Henry Lavender und den philippinischen Muscheln, und von Tucci, dem Veterinär. Ich erzählte ihm von Dr.   Eldridge und dem Leben, wie wir es nicht kennen , und später – zwei Jahre nachdem wir angefangen hatten, uns zu schreiben, sieben Jahre nachdem mein Vater gestorben war, und 3,9 Milliarden Jahre nach dem ersten Leben auf Erden –, als der erste Brief von Jacob Marcus aus Venedig kam, erzählte ich ihm von der Geschichte der Liebe . Meistens schrieben wir einander, oder wir redeten am Telefon, aber manchmal, an den Wochenenden, sahen wir uns. Ich fuhr lieber nach Brighton Beach, weil Mrs.   Shklovsky uns da Tee mit Süßkirschen in Porzellangeschirr brachte, und Mr.   Shklovsky, der immer große dunkle Schweißflecken unter den Achseln hatte, mir russisch fluchen beibrachte. Manchmal liehen wir Filme aus, vor allem Spionagegeschichten oder Krimis – unsere Lieblingsfilme waren Das Fenster zum Hof, Der Fremde im Zug und Der unsichtbare Dritte, die wir schon zehnmal gesehen hatten. Als ich Jacob Marcus unter dem Namen meiner Mutter schrieb, war es Misha, dem ich davon erzählte und dem ich am Telefon die letzte Fassung vorlas. «Wie findest du das?», fragte ich. «Ich finde, du bist am Arsch –» – «Vergiss es», sagte ich.
    9 . DER MANN, DER EINEN STEIN SUCHTE
Eine Woche verging, nachdem ich meinen Brief abgeschickt hatte, oder den meiner Mutter oder wie auch immer. Noch eine Woche verging, und ich fragte mich, ob Jacob Marcus außer Landes sei, womöglich in Kairo, oder vielleicht in Tokio. Eine weitere Woche verging, und ich dachte, wer weiß, ob er nicht irgendwie der Wahrheit auf die Spur gekommen ist. Vier Tage vergingen, und ich versuchte, dem Gesicht meiner Mutter Anzeichen von Ärger abzulesen. Es war schon Ende Juli. Ein Tag verging, und ich dachte, vielleicht sollte ich Jacob Marcus schreiben und mich entschuldigen. Am nächsten Tag kam sein Brief.
Der Name meiner Mutter, Charlotte Singer, stand mit Füllfederhalter vorne draufgeschrieben. Als das Telefon klingelte, steckte ich den Umschlag unter den Bund meiner Shorts. «Hallo?», sagte ich ungeduldig. «Ist der Moshiach zu Hause?», fragte die Stimme am anderen Ende. « Wer?» – «Der Moshiach » , sagte der Junge, und ich hörte ersticktes Gelächter im Hintergrund. Es klang ein wenig nach Louis, der schräg gegenüber wohnte und Birds Freund gewesen war, bis er andere Freunde gefunden hatte, die er lieber mochte, und nicht mehr mit Bird sprach. «Lass ihn in Frieden», sagte ich, legte auf und wünschte, mir wäre etwas Besseres eingefallen.
Während ich die Straße zum Park hinunterrannte, hielt ich mir die Seite, damit der Umschlag nicht herausrutschte. Es war heiß draußen, und ich schwitzte schon. An der Long Meadow riss ich den Brief neben einem Abfalleimer auf. Die erste Seite handelte davon, wie gut Jacob Marcus die Kapitel fand, die meine Mutter ihm geschickt hatte. Ich überflog den Inhalt, bis ich auf der zweiten Seite auf den Satz stieß: Und nun zu Ihrem Brief, den ich noch gar nicht erwähnt habe. So ging es

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