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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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England umgesiedelt ist.» Sie riss ein Blatt Papier von dem Block neben dem Telefon und begann energisch zu schreiben. Eine Minute verging, während sie die Seite voll kritzelte. «Sieh mal!», sagte sie und schob das Papier rüber, damit ich es sehen konnte. «Du kannst tatsächlich sechzehn verschiedene Tortendiagramme machen, jedes davon stimmt!» Ich blickte auf das Papier. Da stand:

Und dann kannst du dich immer noch an halb Engländerin und halb Israelin halten, weil –» – «ICH BIN AMERIKANERIN!», schrie ich. Meine Mutter blinzelte. «Wie du meinst», sagte sie und setzte den Wasserkessel auf. Aus der Ecke des Zimmers, wo er sich die Bilder einer Zeitschrift ansah, brummte Bird: «Nein, bist du nicht. Du bist Jüdin.»
    5. EINMAL BENUTZTE ICH DEN KUGELSCHREIBER, UM DAD ZU SCHREIBEN
Zu meiner Bat-Mizwa waren wir in Jerusalem. Meine Mutter wollte sie an der Klagemauer feiern, damit die Eltern meines Vaters, bubbe und zeyde , dabei sein konnten. Als Zeyde 1938 nach Palästina gekommen war, hatte er gesagt, er werde es nie wieder verlassen, und er hat es nie getan. Wer immer ihn sehen wollte, musste zu ihm nach Kiryat Wolfson kommen, in das Hochhaus mit Ausblick auf die Knesset. Die Wohnung war voller dunkler alter Möbel und dunkler alter Fotos, die sie aus Europa mitgebracht hatten. Nachmittags ließen sie die Metalljalousien herunter, um das alles vor dem grellen Licht zu schützen, denn nichts, was sie besaßen, war dafür gemacht, bei diesem Wetter zu überleben.
Meine Mutter suchte wochenlang nach billigen Flügen und fand schließlich drei 700-Dollar-Tickets auf der El Al. Für uns war das immer noch eine Menge Geld, aber sie sagte, wenigstens sei es gut angelegt. Am Tag vor der Bat-Mizwa fuhr Mom mit uns ans Tote Meer. Bubbe kam auch mit, einen Strohhut auf dem Kopf, der mit einem Band unter dem Kinn festgehalten wurde. Als sie aus der Umkleidekabine trat, wirkte sie faszinierend in ihrem Badeanzug, die Haut schrumplig, runzlig und von blauen Venen durchzogen. Wir sahen, wie ihr in den heißen Schwefelquellen die Röte ins Gesicht schoss, Schweißperlen sich auf ihrer Oberlippe bildeten. Als sie herauskam, lief ihr das Wasser in Strömen vom Leib. Wir folgten ihr nach unten ans Ufer. Bird stand im Schlick, die Beine über Kreuz. «Wenn du Pipi musst, geh ins Wasser», sagte Bubbe mit lauter Stimme. Eine Gruppe schwergewichtiger russischer Frauen, in mineralhaltigen schwarzen Lehm gehüllt, drehte sich nach uns um. Falls bubbe es bemerkte, scherte sie sich nicht darum. Wir trieben auf dem Rücken, während sie unter der breiten Krempe hervorspähte und über uns wachte. Meine Augen waren zu, aber ich spürte ihren Schatten über mir. «Nu, hast’ denn keine Oberweite? Was hast’ denn verbrochen?» Ich fühlte mein Gesicht heiß anlaufen und tat so, als hätte ich nichts gehört. «Und Jungs? Hast’ Freunde?», fragte sie. Bird spitzte die Ohren. «Nein», murmelte ich. «Was?» – «Nein.» – «Warum?» – «Ich bin zwölf.» – «Ja nuu. In dein’ Alter hab’ ich drei geha’t, wenn nicht vier. Du bist jung, du bist hübsch, kejn ajnore .» Ich paddelte an Land, um etwas Abstand zu ihrem imposant dräuenden Busen zu gewinnen. Ihre Stimme verfolgte mich. «Aber ewig bleibt das nicht so!» Ich versuchte aufzustehen und rutschte im Lehm aus. Ich suchte das flache Wasser nach meiner Mutter ab, bis ich sie entdeckte. Sie trieb weit draußen, hinter dem letzten Badenden, und ließ sich noch weiter hinaustreiben.
Am nächsten Morgen stand ich, immer noch nach Schwefel stinkend, an der Klagemauer. Die Ritzen zwischen den massiven Steinen steckten voller zusammengeknüllter Zettel. Der Rabbi sagte mir, wenn ich wollte, könnte ich Gott einen schreiben und ihn auch in die Ritzen stecken. Aber ich glaubte nicht an Gott, also schrieb ich an meinen Vater: Lieber Dad, ich schreibe mit dem Kugelschreiber, den du mir geschenkt hast. Gestern hat Bird mich gefragt, ob du den Heimlich-Griff konntest, und ich habe ja gesagt. Ich habe auch gesagt, du konntest ein Luftkissenfahrzeug fliegen. Im Keller habe ich dein Zelt gefunden. Ich glaube, Mom hat es übersehen, als sie alles rausgeschmissen hat, was dir gehörte. Es riecht etwas vermodert, aber undicht ist es nicht. Manchmal schlage ich es im Garten hinten auf, lege mich hinein und denke daran, dass du auch darin gelegen hast. Ich schreibe das, aber ich weiß, dass du es nicht lesen kannst. Alles Liebe, Alma. Bubbe schrieb auch einen Zettel. Als ich

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