Die Geschichte der Liebe (German Edition)
versuchte, meinen in die Mauer zu stecken, fiel ihrer heraus. Sie war mit Beten beschäftigt, also hob ich ihn auf und faltete ihn auseinander. Da stand: Baruch Haschem, mögen ich und mein Mann den morgigen Tag erleben; dass mein’ Alma in Gesundheit und Schönheit gedeiht, und wär es denn ein Verbrechen, wenn sie zwei schöne Brüste hätt?
6. WENN ICH EINEN RUSSISCHEN AKZENT HÄTTE, WÄRE ALLES ANDERS
Als ich wieder nach New York kam, war Mishas erster Brief da. Liebe Alma , fing er an. Tausend Grüße! Ich bin sehr glücklich über deinen Empfang. Er war fast dreizehn, fünf Monate älter als ich. Sein Englisch war besser als Tatianas, weil er die Texte fast aller Beatles-Songs auswendig konnte. Er sang sie selbst und begleitete sich dabei auf dem Akkordeon, das er von seinem Großvater bekommen hatte, von dem, der eingezogen war, nachdem die Großmutter gestorben und ihre Seele, wie Misha sagt, in Gestalt einer Gänseschar in den Sommergarten von Sankt Petersburg herabgestiegen war. Ganze zwei Wochen blieb sie dort und schnatterte im Regen, und als sie verschwand, war die Wiese voll geschissen. Ein paar Wochen später kam der Großvater zu Misha nach Hause, einen abgestoßenen Koffer mit achtzehn Bänden der Geschichte der Juden hinter sich herschleifend. Er zog in das schon überfüllte Zimmer, das Misha mit seiner älteren Schwester Svetlana bewohnte, packte das Akkordeon aus und begann, sein Lebenswerk zu produzieren. Zuerst schrieb er nur Variationen russischer Volkslieder, mischte sie mit jiddischen Phrasierungen. Später ging er zu dunkleren und wilderen Versionen über, und am Ende hörte er ganz auf, Sachen zu spielen, die man kannte, und während er seine langen Noten hielt, kamen ihm die Tränen, und so begriffsstutzig Misha und Svetya sein mochten, es brauchte ihnen niemand zu sagen, dass er endlich der Komponist geworden war, der er immer hatte sein wollen. Auf der Gasse hinter dem Haus hatte er ein verbeultes Auto stehen. Nach allem, was Misha erzählt, fuhr er wie ein Blinder, ließ das Auto sich fast völlig allein seinen Weg ertasten und gegen Sachen stoßen und drehte nur in lebensbedrohlichen Situationen mit den Fingerspitzen am Lenkrad. Wenn ihr Großvater sie von der Schule abholte, hielten sich Misha und Svetlana die Ohren zu und versuchten wegzuschauen. Wenn er dann den Motor aufheulen ließ und nicht mehr zu ignorieren war, eilten sie gesenkten Kopfes zum Auto und krochen auf den Rücksitz. Sie schmiegten sich aneinander, während er am Steuer saß und zu einem Band mitsang, das von der Punkband ihres Cousins Lev, Pussy Ass Mother Fucker, stammte. Aber er verstand die Worte immer falsch. Wenn Misha und seine Schwester ihn darauf hinwiesen, tat er überrascht und drehte die Lautstärke auf, um besser zu hören, aber beim nächsten Mal sang er wieder falsch. Als er starb, vermachte er Svetya die achtzehnbändige Geschichte der Juden und Misha das Akkordeon. Um die gleiche Zeit lud Levs Schwester, die blauen Lidschatten trug, Misha auf ihr Zimmer ein, legte «Let it Be» auf und brachte ihm das Küssen bei.
7. DER JUNGE MIT DEM AKKORDEON
Misha und ich schrieben einundzwanzig Briefe hin und her. Das war in meinem zwölften Lebensjahr, zwei Jahre bevor Jacob Marcus meiner Mutter schrieb und sie um die Übersetzung der Geschichte der Liebe bat. Mishas Briefe waren voller Ausrufezeichen und Fragen wie: Was bedeutet, am Arsch zu sein?, und meine voller Fragen über das Leben in Russland. Dann lud er mich zu seiner Bar-Mizwa-Feier ein.
Meine Mutter flocht mir das Haar, lieh mir ihren roten Schal und fuhr mich zu der Mietskaserne in Brighton Beach. Ich drückte auf den Klingelknopf und wartete, bis Misha herunterkam. Meine Mutter winkte aus dem Auto. Mich fröstelte in der Kälte. Ein aufgeschossener Junge mit dunklem Flaum auf der Oberlippe kam heraus. «Alma?», fragte er. Ich nickte. «Willkommen, meine Freundin!», sagte er. Ich winkte meiner Mutter und folgte ihm hinein. Im Hausflur roch es nach Sauerkohl. Die Wohnung oben war gesteckt voll mit Menschen, die aßen und sich lautstark auf Russisch unterhielten. In einer Ecke des Esszimmers stand eine Band, und die Leute versuchten zu tanzen, obwohl sie keinen Platz hatten. Misha war beschäftigt, mit jedem ein Wort zu reden und Umschläge in die Tasche zu stopfen, und so verbrachte ich die meiste Zeit der Party mit einem Teller riesiger Garnelen in der Ecke auf der Couch sitzend. Dabei esse ich keine Garnelen, aber es war das Einzige, was ich
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