Die Geschichte der Liebe (German Edition)
weiter:
Ihre Neugier schmeichelt mir. Ich wünschte, ich könnte interessantere Antworten auf all Ihre Fragen geben. Ich muss gestehen, dass ich dieser Tage viel Zeit damit verbringe, einfach hier zu sitzen und aus dem Fester zu schauen. Ich bin immer gern gereist. Aber der Ausflug nach Venedig war anstrengender als gedacht, und ich weiß nicht, ob ich es noch einmal wagen werde. Aus Gründen, die nicht in meiner Hand liegen, ist mein Leben auf die einfachsten Dinge beschränkt. Vor mir auf dem Tisch beispielsweise liegt ein Stein. Ein dunkelgraues Stück Granit, von einer Ader Weiß halbiert. Ich habe fast den ganzen Morgen damit zugebracht, ihn zu finden. Davor sind viele Steine ausgeschieden. Ich hatte keine bestimmte Vorstellung im Hinterkopf. Ich glaubte, ich würde ihn erkennen, wenn ich ihn fände. Im Lauf der Suche habe ich einige Ansprüche entwickelt. Er sollte bequem in der Hand liegen, glatt sein, vorzugsweise grau usw. Das also war mein Morgen. In den vergangenen Stunden habe ich mich nur davon ausgeruht.
Das war nicht immer so. Lange ist mir ein Tag wertlos erschienen, wenn ich nicht eine gewisse Menge Arbeit erledigt hatte. Ob ich das Hinken des Gärtners, das Eis auf dem See, die langen, feierlichen Ausflüge des Nachbarkindes, das offenbar keine Freunde hat, wahrnahm oder nicht – solche Dinge waren unwichtig. Aber das hat sich geändert.
Sie fragen, ob ich verheiratet sei. Ich war es einmal, aber das ist lange her, und wir waren so klug oder so dumm, keine Kinder zu bekommen. Wir haben uns kennen gelernt, als wir jung waren, bevor wir genug über Enttäuschungen wussten, und als wir es taten, sah jeder sie im anderen. Man könnte wohl sagen, dass auch ich einen kleinen russischen Astronauten am Revers trage. Jetzt lebe ich allein, was mich nicht stört. Vielleicht ein kleines bisschen. Aber es müsste schon eine ungewöhnliche Frau sein, die mir jetzt noch Gesellschaft leisten wollte, wo ich kaum bis zum Ende der Einfahrt und wieder zurück laufen kann, um die Post aus dem Briefkasten zu holen. Immerhin tue ich das noch. Zweimal die Woche kommt ein Freund vorbei und bringt mir Lebensmittel, und meine Nachbarin schaut jeden Tag unter dem Vorwand herein, sie wolle nur nach den Erdbeeren sehen, die sie in meinem Garten gepflanzt hat. Dabei mag ich keine Erdbeeren.
Aber ich übertreibe, es klingt schlimmer, als es ist. Ich kenne Sie noch nicht einmal, und schon heische ich nach Mitgefühl.
Sie fragen auch, was ich tue. Ich lese. Heute Morgen habe ich Die Straße der Krokodile zu Ende gelesen, zum dritten Mal. Ich finde es einfach überwältigend.
Außerdem sehe ich mir Filme an. Mein Bruder hat mir einen DVD-Player besorgt. Sie glauben gar nicht, wie viele Filme ich in den letzten Monaten gesehen habe. Das ist meine Hauptbeschäftigung. Filme sehen und lesen. Manchmal gebe ich sogar vor zu schreiben, aber darauf fällt niemand herein. Oh, und ich gehe zum Briefkasten.
Genug. Ihr Buch hat mir sehr gefallen. Bitte schicken Sie mehr.
JM
10. ICH HABE DEN BRIEF HUNDERTMAL GELESEN
Und nach jedem Lesen hatte ich das Gefühl, etwas weniger über Jacob Marcus zu wissen. Er sagte, er habe den Morgen damit verbracht, einen Stein zu suchen, aber er sagte nichts weiter darüber, warum ihm Die Geschichte der Liebe so wichtig war. Natürlich war mir nicht entgangen, dass er geschrieben hatte: Ich kenne Sie noch nicht einmal. Noch nicht! Das hieß, er rechnete damit, uns besser kennen zu lernen, oder zumindest unsere Mutter, da er von Bird und mir ja nichts wusste. (Noch nicht!) Aber warum konnte er kaum bis zum Briefkasten und zurück laufen? Und warum musste es eine ungewöhnliche Frau sein, die ihm Gesellschaft leisten würde? Und warum trug er einen russischen Astronauten am Revers?
Ich beschloss, eine Liste von Hinweisen aufzustellen. Ich ging nach Hause, machte meine Zimmertür zu und holte den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt heraus. Ich schlug eine neue Seite auf. Für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen sollte, in meinem Zimmer herumzuschnüffeln, wollte ich alles verschlüsseln. Ich dachte an Saint-Ex. Obendrüber schrieb ich Wie man überlebt, wenn der Fallschirm sich nicht öffnet. Und dann weiter:
1. Einen Stein suchen
2. An einem See wohnen
3. Einen hinkenden Gärtner haben
4. Die Straße der Krokodile lesen
5. Eine ungewöhnliche Frau brauchen
6. Mit Müh und Not zum Briefkasten laufen
Das waren alle Hinweise, die ich in seinem Brief ausfindig machen konnte, also
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