Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Einwickelpapier lag zerknüllt auf seiner Decke. Er hielt meine Hand und erzählte mir eine Geschichte, wie er, als er sechs war, einem Jungen, der seinen Bruder schikanierte, einen Stein an den Kopf geworfen hatte und sie beide danach nie wieder von irgendjemandem behelligt worden waren. «Man muss sich behaupten», sagte er mir. «Aber es ist schlecht, Steine zu werfen», sagte ich. «Ich weiß», sagte er. «Du bist schlauer als ich. Du wirst etwas Besseres finden als Steine.» Als die Schwester kam, ging ich ans Fenster und sah hinaus. Die 59 th Street Bridge leuchtete in der Dunkelheit. Ich zählte die vorbeiziehenden Schiffe auf dem Fluss. Als mir langweilig wurde, sah ich nach dem alten Mann, dessen Bett auf der anderen Seite des Vorhangs stand. Er schlief meistens, und wenn er wach war, zitterten seine Hände. Ich zeigte ihm den Kugelschreiber. Erklärte ihm, dass er ohne Schwerkraft funktionierte, aber er verstand es nicht. Ich versuchte es noch einmal zu erklären, aber er war immer noch verwirrt. Schließlich sagte ich: «Er ist dafür da, wenn ich im Weltraum bin.» Er nickte und schloss die Augen.
3. DER MANN, DER SICH DER SCHWERKRAFT NICHT ENTZIEHEN KONNTE
Dann starb mein Vater, und ich legte den Kugelschreiber in eine Schublade. Jahre vergingen, ich wurde elf und bekam eine russische Brieffreundin. Es lief über unsere Hebräische Schule, über die Ortsgruppe von Hadassah. Zuerst sollten wir uns mit russischen Juden schreiben, die gerade nach Israel ausgewandert waren, aber als das nicht klappte, bekamen wir richtige russische Juden zugeteilt. Zum Laubhüttenfest schickten wir der Austauschklasse einen etrog mit unseren ersten Briefen. Meine Partnerin hieß Tatiana. Sie lebte in Sankt Petersburg, nahe dem Marsfeld. Ich erzählte gern, sie lebe im Weltraum. Tatianas Englisch war nicht besonders, und oft verstand ich ihre Briefe nicht. Aber ich erwartete sie begierig. Vater ist Mathematiker , schrieb sie. Mein Vater konnte in der Wildnis überleben , schrieb ich zurück. Auf jeden ihrer Briefe schrieb ich zwei. Habt ihr einen Hund? Wie viele Leute benutzen euer Bad? Besitzt ihr etwas, was dem Zar gehörte? Eines Tages kam ein Brief. Sie wollte wissen, ob ich schon einmal bei Sears Roebuck gewesen war. Und am Ende stand ein PS: Junge aus meiner Klasse hat nach New York gezogen. Vielleicht du möchtest ihm schreiben, weil er jemand kennt. Das war das Letzte, was ich je von ihr gehört habe.
4 . ICH MACHTE ANDERE LEBENSFORMEN AUSFINDIG
«Wo ist Brighton Beach?», fragte ich. «In England», sagte meine Mutter, die in den Küchenschränken etwas suchte, was sie verlegt hatte. «Ich meine das in New York.» – «Bei Coney Island, glaube ich.» – «Wie weit ist Coney Island?» – «Eine halbe Stunde ungefähr.» – «Mit dem Auto oder zu Fuß?» – «Du kannst die U-Bahn nehmen.» – «Wie viele Haltestellen?» – «Weiß ich nicht. Was interessiert dich so an Brighton Beach?» – «Ich habe einen Freund dort. Er heißt Misha und ist Russe», sagte ich voller Bewunderung. «Nur Russe?», fragte meine Mutter aus dem Inneren des Schranks unter der Spüle. «Was meinst du mit nur Russe?» Sie stand auf und drehte sich zu mir um. «Nichts», sagte sie und sah mich mit einem Ausdruck an, den sie manchmal annimmt, wenn ihr gerade etwas unerhört Faszinierendes eingefallen ist. «Es ist nur, dass du beispielsweise ein viertel Russin, ein viertel Ungarin, ein viertel Polin und ein viertel Deutsche bist.» Sie zog eine Schublade auf, machte sie wieder zu. «Aber eigentlich», sagte sie, «könntest du sagen, dass du drei viertel Polin und ein viertel Ungarin bist, weil Bubbes Eltern aus Polen kamen, bevor sie nach Nürnberg gezogen sind, und die Heimatstadt von Oma Sasha ursprünglich in Belarus oder Weißrussland lag, bevor sie zu Polen gehörte.» Sie öffnete einen anderen Schrank, voll gestopft mit Plastiktüten, und begann darin zu wühlen. Ich wandte mich zum Gehen. «Aber wenn ich so darüber nachdenke», sagte sie, «könntest du, glaube ich, auch sagen, du seiest drei viertel Polin und ein viertel Tschechin, weil die Stadt, aus der zeyde kam, vor 1918 ungarisch und danach tschechisch war, obwohl die Ungarn sich weiterhin als Ungarn betrachteten und während des Zweiten Weltkriegs für kurze Zeit auch wieder Ungarn wurden. Und natürlich kannst du immer sagen, dass du halb Polin, ein viertel Ungarin und ein viertel Engländerin bist, weil Opa Simon mit neun Jahren aus Polen weggegangen und nach
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