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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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geben wird, ist eine große Flut.
    23. DRAUSSEN GOSS ES IMMER NOCH

HIER SIND WIR ZUSAMMEN
    Am letzten Morgen in Polen, nachdem sein Freund sich die Kappe über die Augen gezogen hatte und um die Ecke verschwunden war, ging Litvinoff in sein Zimmer zurück. Es war schon leer, das Mobiliar verkauft oder verschenkt. Seine Koffer standen an der Tür. Er zog das Päckchen in dem braunen Papierumschlag heraus, das er unter dem Mantel gehalten hatte. Es war zugeklebt, und vorne drauf stand in der vertrauten Handschrift seines Freundes: Zum Aufbewahren für Leopold Gursky, bis du ihn wiedersiehst. Litvinoff steckte es in die Seitentasche seines Koffers. Er ging ans Fenster und sah zum letzten Mal auf den kleinen Ausschnitt Himmel hinaus. Kirchenglocken läuteten in der Ferne, wie sie hunderte Male geläutet hatten, wenn er arbeitete oder schrieb, so oft, dass sie ihm wie Bestandteile seiner eigenen Gedankengänge vorkamen. Er ließ die Finger über die Wand gleiten, die überall dort mit kleinen Löchern gespickt war, wo er die aus der Zeitung ausgeschnittenen Bilder und Artikel anzuheften pflegte. Er hielt inne, um sich im Spiegel zu betrachten, damit er sich später genau erinnern konnte, wie er an diesem Tag ausgesehen hatte. Er spürte einen Kloß im Hals. Zum x-ten Mal tastete er in seiner Tasche nach dem Pass und den Fahrkarten. Dann sah er auf die Uhr, seufzte, nahm die Koffer und ging zur Tür hinaus.
    Wenn Litvinoff vorerst nicht so viel an seinen Freund dachte, so weil er zu viele andere Dinge im Kopf hatte. Dank der Beziehungen seines Vaters, dem jemand, der jemanden kannte, einen Gefallen schuldig war, hatte er ein Visum für Spanien bekommen. Von Spanien wollte er nach Lissabon und von Lissabon mit einem Schiff nach Chile, wo der Cousin seines Vaters lebte. Einmal an Bord des Schiffes, beanspruchten andere Dinge sein Augenmerk: Anfälle von Seekrankheit, seine Angst vor dunklem Wasser, Betrachtungen über den Horizont, Spekulationen über das Leben auf dem Meeresgrund, aufloderndes Heimweh, die Sichtung eines Wals, die Sichtung einer hübschen französischen Brünetten.
    Als das Schiff schließlich im Hafen von Valparaíso ankam und Litvinoff schwankend an Land ging («Seemannsgang», sagte er sich auch Jahre später noch, als das Schwanken manchmal grundlos wiederkehrte), gab es andere Dinge, die ihn beschäftigten. Während der ersten Monate in Chile nahm er jede Arbeit an, die er finden konnte; zuerst in einer Wurstfabrik, wo er am dritten Tag entlassen wurde, weil er in die falsche Straßenbahn gestiegen und fünfzehn Minuten zu spät gekommen war, und danach in einem Lebensmittelladen. Einmal, auf dem Weg zu einem Werkmeister, von dem Litvinoff gehört hatte, er stelle Leute ein, verlief er sich und fand sich vor den Büros der örtlichen Tageszeitung wieder. Die Fenster standen offen, und drinnen hörte er Schreibmaschinen klappern. Schmerzliche Sehnsucht überkam ihn. Er dachte an seine Kollegen in der Redaktion, und das erinnerte ihn an seinen Schreibtisch mit den Holznarben, die er betastete, damit sie ihm denken halfen, und das erinnerte ihn an seine Schreibmaschine mit dem widerspenstigen S, das immer stecken blieb, sodass es Sätze wie sssein Tod reißt ein Loch insss Leben derer, die er unterssstützte in seinen Manuskripten gab, und das erinnerte ihn an den Gestank der billigen Zigarren seines Chefs, und das an seine Beförderung vom Lokalreporter zum Nachrufeschreiber, und das an Isaak Babel, und das war die letzte Reminiszenz, die er sich erlaubte, ehe er dem Strom seiner Sehnsucht Einhalt gebot und die Straße hinunter davoneilte.
    Am Ende fand er Arbeit in einer Apotheke – sein Vater war Apotheker gewesen, und mit der Zeit hatte Litvinoff genug mitbekommen, um dem alten deutschen Juden zu helfen, der in einem ruhigen Viertel der Stadt ein ordentliches Geschäft führte. Erst jetzt, als er sich ein eigenes Zimmer leisten konnte, war er endlich in der Lage, seine Koffer auszupacken. In der Seitentasche des einen fand er das braune Päckchen mit der Handschrift seines Freundes vorne drauf. Eine Welle von Traurigkeit ergoss sich in seinen Schädel. Grundlos erinnerte er sich plötzlich an ein zum Trocknen aufgehängtes weißes Hemd, das er in Minsk auf der Wäscheleine im Hinterhof vergessen hatte.
    Er versuchte sich zu erinnern, wie sein Gesicht an jenem letzten Tag im Spiegel ausgesehen hatte. Aber er konnte es nicht. Mit geschlossenen Augen wollte er die Erinnerung herbeizwingen. Aber alles,

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