Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
vergessend, die ihr aber bereits den Bruchteil einer Sekunde später wieder einfiel, als sie in dem Augenblick mit Litvinoffs zusammenstieß, da seine Lippen auf ihre trafen, sodass sie mit dem ersten Kuss Blutsverwandte wurden.
    Während der Busfahrt nach Hause war Litvinoff ganz schwindlig. Er warf jedem ein Lächeln zu, der in seine Richtung sah. Pfeifend ging er seine Straße hinunter. Aber als er den Schlüssel ins Loch steckte, drang Kälte in sein Herz. Er stand im dunklen Zimmer, ohne die Lampe anzumachen. Um Gottes willen, dachte er. Wo hast du deinen Kopf gelassen? Was auf der Welt könntest du einem solchen Mädchen bieten, sei kein Narr, du hast dich selbst zerfallen lassen, die Stücke sind verloren, und jetzt hast du nichts mehr zu vergeben, und ewig kannst du es nicht verbergen, früher oder später wird sie die Wahrheit herausfinden: Du bist eine leere menschliche Hülse, sie braucht nur dranzuklopfen, um zu merken, wie leer du bist.
    Lange stand er da, den Kopf am Fenster, und dachte über alles nach. Dann zog er sich aus. Sich durch die Dunkelheit tastend, wusch er seine Unterwäsche und hängte sie zum Trocknen auf den Heizkörper. Er drehte die Skala am Radio, das leuchtete und zum Leben erwachte, aber eine Minute später stellte er es wieder ab, und ein Tango verstummte in Stille. Er saß nackt auf dem Stuhl. Eine Fliege landete auf seinem welken Penis. Er murmelte ein paar Worte. Und weil das Murmeln sich gut anfühlte, murmelte er noch ein paar. Es waren Worte, die er auswendig wusste, weil er sie seit jener Nacht vor all den vielen Jahren, als er über seinen Freund gewacht und gebetet hatte, er möge nicht sterben, auf einem gefalteten Stück Papier in seiner Brusttasche bei sich getragen hatte. Er hatte sie so oft ausgesprochen, sogar ohne das Wissen darum, sie auszusprechen, dass er manchmal ganz vergaß, dass es nicht seine Worte waren.
    In dieser Nacht ging Litvinoff an den Wandschrank und holte seinen Koffer herunter. Eine Hand in die Seitentasche schiebend, tastete er nach einem dicken Papierumschlag. Er zog ihn heraus, setzte sich wieder auf den Stuhl und legte den Umschlag auf seinen Schoß. Obwohl er ihn nie geöffnet hatte, wusste er natürlich, was darin war. Zum Schutz gegen die Helligkeit schloss er die Augen, langte nach oben und machte das Licht an.
    Zum Aufbewahren für Leopold Gursky, bis du ihn wiedersiehst.
    Später schien dieser Satz, wie tief er ihn auch im Müll unter Orangenschalen und Kaffeefiltern zu begraben versuchte, immer wieder an die Oberfläche zu kommen. Und so fischte Litvinoff den leeren Umschlag, dessen Inhalt jetzt in Sicherheit auf seinem Tisch lag, eines Morgens wieder heraus. Dann zündete er, Tränen unterdrückend, ein Streichholz an und sah zu, wie die Handschrift seines Freundes verbrannte.

LACHEND STERBEN
    Was steht da?
    Wir standen unter den Sternen in der Grand Central, jedenfalls muss ich das annehmen, weil ich mir eher die Beine um die Ohren hätte schlingen können, als den Kopf in den Nacken zu legen, um freie Sicht nach oben zu haben.
    Was steht da? , wiederholte Bruno und stieß mir den Ellbogen in die Rippen, während ich das Kinn eine weitere Raste zur Abfahrtstafel hochrucken ließ. Meine Oberlippe löste sich von der unteren, um die Last der Kinnlade loszuwerden. Los, beeil dich, sagte Bruno. Immer sachte mit den jungen Pferden , sagte ich, nur dass es mit offenem Mund als Inner achte nitte hunge Herde herauskam. Ich konnte soeben die Zahlen erkennen. 9 Uhr 45 , sagte ich, oder vielmehr neun Uhr hünunhierzig. – Wie spät ist es jetzt? , fragte Bruno. Ich bemühte meinen Blick wieder nach unten, auf die Armbanduhr. 9 Uhr 43 , sagte ich.
    Wir fingen an zu rennen. Nicht zu rennen, aber uns so zu bewegen, wie es zwei Menschen mit verschlissenen Kugelgelenken tun, wenn sie einen Zug erreichen wollen. Ich lag in Führung, Bruno war mir hart auf den Fersen. Dann drängte er sich vorbei – er hatte eine Art, sich mit den Armen anzukurbeln, die jeder Beschreibung spottet –, und ich ließ es ein wenig lockerer angehen, während er, in Anführungszeichen, in den Wind schoss. Ich war ganz auf seinen Nacken konzentriert, als er ohne Vorwarnung aus meinem Blickfeld abtauchte. Ich sah nach hinten. Er lag lang hingestreckt auf dem Boden, einen Schuh an, den anderen aus. Lauf! , rief er mir zu. Ich taumelte, wusste nicht, was ich tun sollte. Lauf! , rief er wieder, und so lief ich, und ehe ich michs versah, hatte er irgendwo abgekürzt und lag

Weitere Kostenlose Bücher