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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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was ihm in den Sinn kam, war der Ausdruck auf dem Gesicht seines Freundes, als dieser an der Straßenecke stand. Seufzend steckte Litvinoff den Umschlag wieder in den leeren Koffer, zog den Reißverschluss zu und schob ihn auf die Ablage im Schrank.
    Alles, was ihm nach Kost und Logis an Geld übrig blieb, sparte er, um seine jüngere Schwester Miriam herüberzuholen. In Alter und Aussehen einander die nächsten unter den Geschwistern, waren sie als Kinder oft für Zwillinge gehalten worden, obwohl Miriam hellhäutiger war als er und eine Hornbrille trug. Sie hatte in Warschau Jura studiert, bis ihr die Teilnahme an den Vorlesungen verboten worden war.
    Das Einzige, was Litvinoff sich selbst genehmigte, war ein Kurzwellenradio. Jeden Abend drehte er den Knopf zwischen den Fingern und durchstreifte die Skala des südamerikanischen Kontinents, bis er den neuen Sender The Voice of America fand. Er sprach nur wenig Englisch, aber es reichte. Mit Entsetzen lauschte er den Nachrichten über den Vormarsch der Nazis. Hitler brach seinen Pakt mit der Sowjetunion und überrannte ganz Polen. Ein Schrecken jagte den anderen.
    Die wenigen Briefe von Freunden oder Verwandten wurden immer spärlicher, und es war schwierig zu erfahren, was wirklich geschah. Dem vorletzten Brief seiner Schwester – in dem sie ihm erzählte, dass sie sich in einen Kommilitonen verliebt und geheiratet hatte – lag ins Blatt gefaltet ein Foto von ihr und Zvi aus ihrer Kindheit bei. Auf die Rückseite hatte sie geschrieben: Hier sind wir zusammen.
    Morgens, wenn Litvinoff sich seinen Kaffee machte, hörte er streunenden Hunden zu, die auf der Gasse kämpften. Dann wartete er, früh in der Sonne bratend, auf die Straßenbahn. Er nahm sein Mittagessen hinten in der Apotheke zwischen Pillen und Pudern, Kirschsirup und Haarbändern ein, und abends, wenn er die Böden gewischt und all die Gläser so lange poliert hatte, bis er das Gesicht seiner Schwester sich darin spiegeln sah, ging er nach Hause. Er machte kaum Bekanntschaften. Er war nicht mehr im Geschäft mit Bekanntschaften. Wenn er nicht arbeiten musste, hörte er Radio. Er hörte zu, bis er erschöpft war und auf seinem Stuhl einschlief, und sogar dann hörte er noch weiter, in Träumen, die sich um die Stimme des Nachrichtensprechers entspannen. Es gab andere Flüchtlinge in seiner Umgebung, die das Gleiche an Ängsten und Hilflosigkeit durchlebten, aber Litvinoff fand darin keinen Trost, weil es auf der Welt zwei Sorten Menschen gibt: solche, die gern in Gesellschaft traurig sind, und solche, die lieber allein traurig sind. Litvinoff war lieber allein. Wenn er zum Essen eingeladen wurde, sagte er mit einer Entschuldigung ab. Einmal, als seine Vermieterin ihn sonntags zum Tee bat, erzählte er ihr, er müsse etwas fertig schreiben. «Sie schreiben?», fragte sie überrascht. «Was schreiben Sie?» Was Litvinoff betraf, war eine Lüge so gut wie die andere, und so sagte er, ohne groß nachzudenken: «Gedichte.»
    Ein Gerücht kam auf, dass er Dichter sei. Und Litvinoff, insgeheim geschmeichelt, tat nichts, um es zu unterdrücken. Er kaufte sich sogar einen Hut im Stil Alberto Santos-Dumonts, von dem die Brasilianer behaupten, er habe den ersten erfolgreichen Flug aller Zeiten absolviert, und dessen vom Befächern des Flugzeugmotors verbogener Panamahut, so hatte Litvinoff gehört, unter Literaten noch immer beliebt war.
    Die Zeit verging. Der alte deutsche Jude starb im Schlaf, die Apotheke wurde geschlossen und Litvinoff, teils unter dem Eindruck der Gerüchte über sein literarisches Talent, als Lehrer in einer jüdischen Tagesschule angestellt. Der Krieg ging zu Ende. Nach und nach erfuhr Litvinoff, was mit seiner Schwester Miriam, seinen Eltern und vier anderen Geschwistern geschehen war (das Schicksal seines ältesten Bruders André konnte er sich nur nach Vermutungen zusammenreimen). Er lernte, mit der Wahrheit zu leben. Nicht, sie zu akzeptieren, aber mit ihr zu leben. Es war, als lebte er mit einem Elefanten. Sein Zimmer war klein, und jeden Morgen musste er sich, wenn er nur aufs Klo wollte, an der Wahrheit vorbeiquetschen. Um eine Unterhose aus dem Schrank zu holen, musste er unter der Wahrheit hindurchkriechen, immer betend, dass sie nicht diesen Moment wählen würde, sich ihm aufs Gesicht zu setzen. Nachts, wenn er die Augen schloss, fühlte er ihre drohende Masse über sich.
    Er nahm ab. Alles an ihm schien zu schrumpfen, außer seinen Ohren und der Nase, die herunterhingen, länger

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