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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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wurden und ihm einen melancholischen Ausdruck verliehen. In dem Jahr, als er zweiunddreißig wurde, fiel ihm das Haar büschelweise aus. Er tauschte den verbogenen Panamahut gegen die Gewohnheit, überall einen schweren Mantel zu tragen, in dessen Innentasche sich ein abgegriffenes, zerknittertes Papier befand, das er jahrelang mit sich herumgetragen hatte und das an den Falten schon brüchig geworden war. In der Schule piksten sich die Kinder hinter seinem Rücken mit den Fingern in den Oberarm, zum Impfen, wenn er sie zufällig berührt hatte.
    In diesem Zustand wurde Rosa in den Strandcafés erstmals auf Litvinoff aufmerksam. Er kam nachmittags unter dem Vorwand, einen Roman oder eine Literaturzeitschrift zu lesen (anfangs, um seinem Ruf gerecht zu werden, später aus wachsendem Interesse). Aber in Wirklichkeit wollte er nur etwas Zeit gewinnen, bevor er wieder nach Hause musste, wo die Wahrheit auf ihn wartete. Im Café erlaubte er sich, ein wenig zu vergessen. Er sinnierte über die Wellen, beobachtete die Studenten oder lauschte ihren Diskussionen, den gleichen Argumenten, die er selbst im Munde geführt hatte, als er vor hundert (d.   h. zwölf) Jahren Student gewesen war. Er kannte sogar manche Namen. Einschließlich Rosas. Wie auch nicht? Sie wurde ja ständig gerufen.
    An dem Nachmittag, als sie sich seinem Tisch näherte und, statt vorbeizugehen, um irgendeinen jungen Mann zu begrüßen, mit unvermittelter Anmut stehen blieb und fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürfe, dachte Litvinoff, das sei ein Scherz. Ihr Haar war schwarz und glänzend und hatte einen kurzen Schnitt, der knapp unter das Kinn reichte und ihre kräftige Nase betonte. Sie trug ein grünes Kleid (später sollte Rosa behaupten, es sei rot gewesen, rot mit schwarzen Tupfen, aber Litvinoff wollte die Erinnerung an ein ärmelloses smaragdgrünes Chiffonkleid nicht aufgeben). Erst nachdem sie eine halbe Stunde bei ihm gesessen hatte und ihre Freunde, die das Interesse verloren, zu ihren Gesprächen zurückgekehrt waren, wurde Litvinoff bewusst, dass ihre Geste ernst gemeint gewesen war. Eine beklemmende Gesprächspause trat ein. Rosa lächelte.
«Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt», sagte sie. «Du bist Rosa», sagte Litvinoff.
    Am folgenden Nachmittag tauchte Rosa wie versprochen zu einem zweiten Treffen auf. Als sie auf die Uhr sah und merkte, wie spät es geworden war, verabredeten sie ein drittes, und danach verstand es sich von selbst, dass es ein viertes geben würde. Als sie sich das fünfte Mal trafen, schlug Litvinoff, mitgerissen von Rosas jugendlicher Spontaneität – halbwegs im Eifer des Gefechts einer hitzigen Diskussion über die Frage, wer der größere Dichter sei, Neruda oder Darío –, zu seiner eigenen Überraschung vor, gemeinsam in ein Konzert zu gehen. Als Rosa prompt darauf einging, dämmerte ihm, dass dieses hübsche Mädchen, o Wunder aller Wunder, wohl im Begriff sein könnte, Gefühle für ihn zu entwickeln. Ihm war, als hätte jemand in seiner Brust einen Gong angeschlagen. Sein ganzer Körper hallte von der Nachricht wider.
    Wenige Tage nach dem Konzertbesuch trafen sie sich im Park und machten ein Picknick. Dem folgte eine Fahrradtour am nächsten Sonntag. Bei der siebten Verabredung sahen sie sich einen Film an. Als er vorbei war, brachte Litvinoff Rosa nach Hause. Sie standen noch zusammen und diskutierten über Grace Kellys Schauspielkunst versus ihre unglaubliche Schönheit, da beugte Rosa sich urplötzlich vor und küsste ihn. Zumindest versuchte sie, ihn zu küssen, aber der darauf nicht vorbereitete Litvinoff zuckte zurück und ließ sie, gefährlich kippelnd, mit ausgestrecktem Hals in der Luft hängen. Die ganze Nacht hatte er das Auf und Ab der Entfernung zwischen ihren verschiedenen Körperteilen mit wachsendem Vergnügen überwacht. Aber die schwankenden Ausschläge waren so geringfügig gewesen, dass ihn dieser plötzliche Ansturm von Rosas Nase fast zum Weinen brachte. Als ihm sein Fehler bewusst wurde, streckte er den Hals blindlings in den Abgrund vor. Aber da hatte sich Rosa, aus Schaden klug geworden, bereits auf sicheres Gebiet zurückgezogen. Litvinoff hing in der Schwebe. Lange genug, dass ihm ein Hauch von Rosas Duft die Nase kitzelte, dann trat er schleunigst den Rückzug an. Oder er begann, schleunigst den Rückzug anzutreten, als Rosa, die kein Risiko mehr eingehen wollte, mit gespitzten Lippen auf das umkämpfte Terrain vorstieß, einen Moment die ihr anhaftende Nase

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