Die Geschichte der Liebe (German Edition)
wieder vor mir, den Schuh in der Hand und kurbelnd, was das Zeug hielt.
An Gleis 22 bitte einsteigen.
Bruno nahm die Treppe zum Bahnsteig hinunter. Ich hinterher. Alles sprach dafür, dass wir es schaffen würden. Und doch. Als er den Zug erreichte, kam er in jähem Gesinnungswandel schleudernd zum Stehen. Ich, so in Fahrt, dass ich nicht halten konnte, stürmte an ihm vorbei in den Wagen. Hinter mir schlossen sich die Türen. Er lächelte durch die Scheibe. Ich trommelte mit der Faust ans Fenster. Zum Teufel mit dir, Bruno . Er winkte. Er wusste, dass ich allein nicht gefahren wäre. Und doch. Er wusste, dass ich fahren musste. Allein. Der Zug fuhr an. Brunos Lippen bewegten sich. Ich versuchte davon abzulesen. Viel , sagten sie. Seine Lippen machten eine Pause. Viel was?, wollte ich rufen. Sag mir, viel was? Und sie sagten: Glück. Der Zug fuhr aus dem Bahnhof in die Dunkelheit.
Fünf Tage nachdem der braune Umschlag mit den Seiten des vor einem halben Jahrhundert von mir geschriebenen Buches angekommen war, befand ich mich auf dem Weg, mir mein ein halbes Jahrhundert später geschriebenes Buch zurückzuholen. Oder anders: Eine Woche nachdem mein Sohn gestorben war, befand ich mich auf dem Weg zu seinem Haus. So oder so war ich allein.
Ich fand einen Fensterplatz und versuchte, zu Atem zu kommen. Wir rauschten durch den Tunnel. Ich lehnte den Kopf an die Scheibe. Jemand hatte «schöne Titten» ins Glas geritzt. Unwillkürlich fragte man sich: Wessen? Der Zug tauchte in graues Licht und Regen auf. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich schwarzfuhr.
In Yonkers stieg ein Mann zu und setzte sich neben mich. Er zog ein Taschenbuch heraus. Mir knurrte der Magen. Ich hatte noch nichts zu mir genommen außer dem Kaffee, den ich morgens mit Bruno bei Dunkin’ Donuts getrunken hatte. Es war früh. Wir waren die ersten Gäste. Geben Sie mir einmal Marmelade und einmal Puderzucker , sagte Bruno. Geben Sie ihm einmal Marmelade und einmal Puderzucker, sagte ich , und für mich einen kleinen Kaffee. Der Mann unter der Papiermütze zögerte. Medium kommt er Sie billiger. Gott schütze dich, Amerika. In Ordnung , sagte ich. Machen Sie ihn medium. Der Mann ging weg und kam mit dem Kaffee wieder. Geben Sie mir einen Bavarian Kreme und einen glasierten , sagte Bruno. Ich warf ihm einen Blick zu. Was? , sagte er achselzuckend. Geben Sie ihm einen Bavarian Kreme –, sagte ich. Und einen Vanille , sagte Bruno. Ich drehte mich wütend nach ihm um. Mea culpa , sagte er. Vanille. Geh, setz dich, sagte ich. Er stand da. SETZ DICH , sagte ich. Geben Sie mir einen Cruller, sagte er. Der Bavarian Kreme war in vier Bissen alle. Er leckte sich die Finger und hielt den Cruller gegen das Licht. Das ist ein Donut, kein Diamant , sagte ich. Er ist trocken , sagte Bruno. Iss ihn trotzdem, sagte ich. Tauschen Sie ihn gegen einen Apfel-Zimt, sagte er.
Der Zug ließ die Stadt hinter sich. Zu beiden Seiten zogen grüne Felder vorbei. Es hatte seit Tagen geregnet und regnete noch immer.
Oft hatte ich mir vorgestellt, wo Isaac jetzt lebte. Ich suchte es auf der Karte. Einmal rief ich sogar die Auskunft an. Wie muss ich fahren, wenn ich von Manhattan aus zu meinem Sohn will? , fragte ich. Ich hatte mir alles ausgemalt, bis ins letzte Detail. Glückliche Zeiten! Ich würde ein Geschenk mitbringen. Ein Glas Marmelade vielleicht. Nur keine Förmlichkeiten. Zu spät für solche Mätzchen. Vielleicht würden wir uns auf der Wiese einen Ball zuwerfen. Ich kann nicht fangen. Ehrlich gesagt, kann ich auch nicht werfen. Und doch. Wir würden über Baseball reden. Ich verfolge das Spiel seit Isaacs Kindertagen. Wenn er für die Dodgers fieberte, fieberte ich mit. Ich hielt mich so gut wie möglich über die Musik auf dem Laufenden. Die Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan – «Lay, Lady, Lay», man braucht kein Fachmann zu sein, um das zu verstehen. Jeden Abend kam ich von der Arbeit nach Hause und bestellte bei Mr. Tong. Dann nahm ich eine Platte aus der Hülle, legte die Nadel auf und lauschte.
Jedes Mal, wenn Isaac umzog, suchte ich auf der Karte den Weg zwischen meinem und seinem Wohnort heraus. Beim ersten Mal war er elf. Ich stand immer gegenüber seiner Schule in Brooklyn an der Straße und wartete, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen und vielleicht, wenn ich Glück hatte, seine Stimme zu hören. Eines Tages wartete ich wie gewöhnlich, aber er kam nicht heraus. Ich dachte, er habe sich wohl etwas eingebrockt und müsse nachsitzen.
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