Die Geschichte der Liebe (German Edition)
jenes. Am Ende sind es nur die irdischen Besitztümer, die von einem bleiben. Vielleicht konnte ich deshalb nie etwas wegwerfen. Vielleicht habe ich deshalb die ganze Welt um mich versammelt: in der Hoffnung, die Summe meiner Habseligkeiten würde bei meinem Tod auf ein größeres Leben deuten als das, das ich gelebt habe.
Mir wurde schwindlig, und ich suchte Halt am Kamin. Dann ging ich in Isaacs Küche zurück. Appetit hatte ich keinen, aber ich öffnete trotzdem den Kühlschrank, weil der Doktor mir gesagt hatte, ich solle nicht mit leerem Magen herumlaufen, wegen meines Blutdrucks oder so. Ein starker Geruch schlug mir in die Nase. Ein Hühnchenrest, der schlecht geworden war. Ich schmiss ihn raus, wie auch ein paar braune Pfirsiche und etwas verschimmelten Käse. Dann wusch ich den schmutzigen Teller. Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll, das ich bei diesen beiläufigen Handgriffen im Haus meines Sohnes hatte. Ich führte sie mit Liebe aus. Das Glas stellte ich wieder in den Schrank. Den Teebeutel warf ich weg, die Untertasse spülte ich ab. Wahrscheinlich gab es Leute – den Mann mit der gelben Fliege oder einen künftigen Biographen –, die alles so unberührt haben wollten, wie Isaac es hinterlassen hatte. Vielleicht würden sie sogar eines Tages ein Museum aus seinem Leben machen, gesponsert von denselben Leuten, die das Glas aufbewahrten, aus dem Kafka sein letztes Schlückchen nahm, den Teller, von dem Mandelstam seine letzten Krümel aß. Isaac war ein großer Schriftsteller, der Schriftsteller, der ich nie hätte sein können. Und doch. Er war auch mein Sohn.
Ich ging nach oben. Mit jeder Tür, jedem Schrank, jeder Schublade, die ich öffnete, erfuhr ich etwas Neues über Isaac, und mit jeder neuen Sache, die ich erfuhr, wurde seine Abwesenheit wirklicher, und je wirklicher, umso unmöglicher war sie zu glauben. Ich öffnete sein Medizinschränkchen und fand darin zwei Flaschen Talkumpuder. Ich weiß gar nicht genau, was Talkumpuder eigentlich ist oder wozu man ihn benutzt, aber allein dieses handgreifliche Objekt aus seinem Leben bewegte mich mehr als jede Kleinigkeit, die ich mir je vorgestellt hatte. Ich öffnete seinen Kleiderschrank und schob das Gesicht zwischen seine Hemden. Er mochte die Farbe Blau. Ich nahm ein Paar braune Wingtips heraus. Die Absätze waren komplett abgelaufen. Ich steckte meine Nase hinein und schnüffelte. Ich fand seine Uhr auf dem Nachttischchen und legte sie an. Dort, wo sich das von ihm benutzte Loch befand, war das Lederarmband brüchig. Sein Handgelenk war kräftiger gewesen als meines. Wann war er größer geworden als ich? Was hatte ich, was hatte er in genau dem Augenblick getan, als er über mich hinausgewachsen war?
Das Bett war ordentlich gemacht. War er darin gestorben? Oder hatte er es geahnt und war aufgestanden, um seine Kindheit noch einmal zu grüßen und dann doch niedergeschmettert zu werden? Was war das Letzte, was er angesehen hatte? War es die Uhr an meinem Handgelenk gewesen, die um 12 : 38 stehen geblieben war? Der See draußen vor dem Fenster? Jemandes Gesicht? Und hat er Schmerz empfunden?
Nur ein einziges Mal ist jemand in meinen Armen gestorben. Ich arbeitete als Hausmeister in einem Krankenhaus, das war im Winter 40/41. Es war nur eine kurze Zeit. Am Ende habe ich die Arbeit verloren. Aber eines Abends, in meiner letzten Woche, als ich den Boden wischte, hörte ich jemanden würgen. Es kam aus dem Zimmer einer Frau, die eine Blutkrankheit hatte. Ich rannte hin. Ihr Körper wand sich in Krämpfen. Ich nahm sie in die Arme. Ich glaube, ich kann sagen, dass für uns beide außer Frage stand, was geschehen würde. Sie hatte ein Kind. Das wusste ich, weil ich es einmal mit seinem Vater bei einem Besuch gesehen hatte. Ein kleiner Junge in polierten Stiefeln und einem Mantel mit goldenen Knöpfen. Er hatte dagesessen, die ganze Zeit mit einem Auto gespielt und seine Mutter nur beachtet, wenn sie mit ihm sprach. Vielleicht war er ihr böse, weil sie ihn so lange mit seinem Vater allein ließ. Als ich ihr ins Gesicht sah, dachte ich an ihn, den Jungen, der aufwachsen würde, ohne zu wissen, wie er sich das verzeihen sollte. Ich empfand eine Art Erleichterung und Stolz, ja sogar Überlegenheit, dass ich die Aufgabe erfüllte, die er nicht erfüllen konnte. Und dann, weniger als ein Jahr danach, war ich der Sohn, dessen Mutter ohne ihn starb.
Hinter mir ein Geräusch. Ein Knarren. Diesmal drehte ich mich nicht um. Ich kniff
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