Die Geschichte der Liebe (German Edition)
die Augen zu. Isaac , flüsterte ich. Der Klang meiner eigenen Stimme erschreckte mich, aber ich fuhr fort. Ich will dir sagen – hier unterbrach ich mich. Was will ich dir sagen? Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Dass ich deine Mutter mit meinem Leben verwechselt habe? Nein. Isaac , sagte ich. Die Wahrheit ist das, was ich erfunden habe, damit ich leben konnte.
Jetzt drehte ich mich um und sah mich im Spiegel an Isaacs Wand. Ein Narr im Narrenkleid. Ich war gekommen, um mein Buch zurückzuholen, aber jetzt kam es nicht mehr darauf an, ob ich es fand oder nicht. Ich dachte: Soll es verloren sein wie der Rest. Es machte nichts, nicht mehr.
Und doch.
In der Ecke des Spiegels sah ich, reflektiert von der anderen Seite des Flurs, seine Schreibmaschine. Niemand brauchte mir zu sagen, dass es das gleiche Modell war wie meine. In einem Zeitungsinterview hatte ich gelesen, dass er seit fast fünfundzwanzig Jahren auf einer altmodischen Olympia schrieb. Ein paar Monate später sah ich eine herabgesetzt in einem Secondhandladen. Der Mann sagte, sie sei in Ordnung, also kaufte ich sie. Am Anfang machte es mir einfach Spaß, sie anzusehen, zu wissen, dass mein Sohn auch so eine ansah. Tagaus, tagein stand sie da und lächelte mich an, als wären die Tasten Zähne. Dann hatte ich den Herzinfarkt, und sie lächelte noch immer, also zog ich eines Tages ein Blatt ein und schrieb einen Satz.
Ich ging über den Flur. Dachte: Was, wenn ich mein Buch dort fände, auf seinem Schreibtisch? Plötzlich ging mir auf, wie seltsam das alles war. Ich in seinem Mantel, mein Buch auf seinem Tisch. Er mit meinen Augen, ich in seinen Schuhen.
Ich wollte nichts als den Beweis, dass er es gelesen hatte.
Ich setzte mich auf seinen Stuhl vor seine Schreibmaschine. Es war kalt im Haus. Ich zog seinen Mantel enger. Ich glaubte, Gelächter zu hören, sagte mir aber, es sei nur das kleine Boot, das im Wind quietsche. Ich glaubte, Schritte auf dem Dach zu hören, sagte mir aber, es sei nur ein nach Futter suchendes Tier. Ich wiegte mich ein wenig, wie mein Vater sich wiegte, wenn er betete. Einmal hat er mir gesagt: Wenn ein Jude betet, stellt er Gott eine Frage, die kein Ende hat.
Dunkelheit senkte sich. Regen fiel herab.
Ich habe nie gefragt: Welche Frage?
Und jetzt ist es zu spät. Weil ich dich verloren habe, Tate . Eines Tages, im Frühjahr 1938, als es regnete und der Himmel irgendwann aufriss, habe ich dich verloren. Du warst fortgegangen, um Beweisstücke für eine Theorie über Niederschlag, Instinkt und Schmetterlinge zu sammeln, die du ausgebrütet hast. Und dann bliebst du fort. Wir fanden dich unter einem Baum liegend, das Gesicht mit Schlamm bespritzt. Wir wussten, nun warst du frei, erlöst von enttäuschenden Ergebnissen. Und wir begruben dich auf dem Friedhof, wo dein Vater und sein Vater begraben lagen, im Schatten einer Kastanie. Drei Jahre später habe ich Mame verloren. Als ich sie das letzte Mal sah, trug sie ihre gelbe Schürze. Sie stopfte Sachen in einen Koffer, das Haus war ein Trümmerfeld. Sie sagte, ich solle in den Wald gehen. Sie hatte mir Essen eingepackt und sagte, ich solle meinen Mantel anziehen, obwohl es Juli war. «Geh», sagte sie. Ich war zu alt, um zu gehorchen, aber ich gehorchte wie ein Kind. Sie sagte mir, sie käme nach, am Tag darauf. Wir verabredeten eine Stelle im Wald, die wir beide kannten. Den riesigen Walnussbaum, den du so mochtest, Tate , weil er, wie du sagtest, menschliche Eigenschaften besaß. Ich machte mir nicht die Mühe, adieu zu sagen. Ich wollte glauben, was einfacher war. Ich wartete. Aber: Sie kam nicht. Seitdem habe ich mit der Schuld gelebt, zu spät verstanden zu haben, dass sie glaubte, sie würde mir zur Last fallen. Ich verlor Fritzi. Er studierte in Wilna, Tate ; jemand, der jemanden kannte, hat mir erzählt, er sei zuletzt auf einem Transport gesehen worden. Ich verlor Sari und Hanna an die Hunde. Ich verlor Herschel an den Regen. Ich verlor Josef an einen Sprung in der Zeit. Ich verlor den Klang des Lachens. Ich verlor ein Paar Schuhe; ich hatte sie zum Schlafen ausgezogen, die Schuhe, die Herschel mir geschenkt hatte, und als ich aufwachte, waren sie weg; ich ging tagelang barfuß, dann wurde ich schwach und stahl die eines anderen. Ich verlor die einzige Frau, die ich je lieben wollte. Ich verlor Jahre. Ich verlor Bücher. Ich verlor das Haus, in dem ich geboren bin. Und ich verlor Isaac. Wer kann also sagen, ob ich nicht irgendwo unterwegs, ohne es zu merken, auch den
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