Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Kindheit an gekannt, da er in der Schule mit ihr in eine Klasse gegangen war, bis er auf die Jeschiwa gewechselt hatte. Sie war eines in einer Gruppe von Mädchen gewesen, die er von kümmerlichen Bohnenstangen zu tropischen, die Luft um sich mit schwüler Feuchtigkeit schwängernden Schönheiten hatte erblühen sehen. Alma hatte einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen, genau wie die sechs oder sieben anderen Mädchen, deren Verwandlungen er beobachtet hatte und die in den Wirren seiner eigenen Pubertät reihum zum Objekt seiner Begierde geworden waren. Auch all diese Jahre später, während Litvinoff an seinem Tisch in Valparaíso saß, konnte er sich noch an den ursprünglichen Katalog entblößter Oberschenkel, zarter Ellenbeugen und nackter Nacken erinnern, die ihn zu zahllosen fieberhaften Variationen inspiriert hatten. Dass Alma in einer Art Hin-und-her-und-wieder-hin an jemand anders vergeben war, schloss ihre Teilnahme an Litvinoffs Träumereien (die sich massiv auf Montagetechnik stützten) nicht aus. Wenn er je neidisch darauf war, dass sie einem anderen gehörte, so nicht aus einem besonderen Gefühl für Alma, sondern aus dem Wunsch heraus, ebenso ausgewählt und allein geliebt zu werden.
Und wenn seine Hand, als er zum zweiten Mal versuchte, ihren Namen durch einen anderen zu ersetzen, zum zweiten Mal erstarrte, so vielleicht, weil er wusste, dass die Entfernung ihres Namens einem Auslöschen all der Satzzeichen und Vokale, eines jeden Adjektivs und Substantivs gleichkäme. Denn ohne Alma hätte es kein Buch gegeben.
Während der Federhalter über der Seite stockte, erinnerte sich Litvinoff an den Tag im Frühsommer 1936, als er nach zwei Jahren Abwesenheit, die er an der Jeschiwa studiert hatte, nach Slonim zurückgekehrt war. Alles sah kleiner aus als in seiner Erinnerung. Die Hände in den Taschen, schlenderte er die Straße entlang, auf dem Kopf den vom gesparten Geld gekauften neuen Hut, der ihm, wie er meinte, etwas Weltmännisches verlieh. Beim Einbiegen in eine vom Platz wegführende Straße überkam ihn das Gefühl, dass viel mehr Zeit vergangen war als nur zwei Jahre. Die gleichen Hühner legten ihre Eier in die Nester, die gleichen zahnlosen Männer diskutierten über nichts, aber irgendwie schien alles kleiner und schäbiger. Litvinoff wusste, dass sich etwas in seinem Inneren verändert hatte. Er war ein anderer geworden. Er ging an einem Baum mit einem Loch im Stamm vorbei, dem früheren Versteck für ein anstößiges Bild, das er dem Freund seines Vaters vom Tisch gestohlen hatte. Er hatte es fünf oder sechs Jungen gezeigt, bevor er an seinen Bruder verpetzt wurde, der es für seinen eigenen Gebrauch kassierte. Litvinoff ging auf den Baum zu. Und da entdeckte er sie. Sie standen rund hundert Meter von ihm entfernt. Gursky gegen einen Zaun und Alma gegen ihn gelehnt. Litvinoff sah, wie Gursky ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm. Sie zögerte, dann hob sie ihr Gesicht zu seinem. Und als Litvinoff sah, wie sie sich küssten, empfand er alles, was ihm gehörte, als wertlos.
Sechzehn Jahre später sah er, wie jede Nacht ein anderes Kapitel des von Gursky geschriebenen Buches in seiner eigenen Handschrift erschien. Um es festzuhalten, kopierte er es Wort für Wort, außer den Namen, die er bis auf einen änderte.
18. KAPITEL, schrieb er in der achtzehnten Nacht. LIEBE UNTER DEN ENGELN.
WIE ENGEL SCHLAFEN. Unruhig. Sie wälzen sich hin und her, immer bemüht, das Geheimnis der Lebenden zu begreifen. Sie wissen so wenig darüber, wie es ist, eine neue Brille verordnet zu bekommen und die Welt plötzlich mit anderen Augen zu sehen, in einer Mischung aus Enttäuschung und Dankbarkeit. Wie es ist, wenn ein Mädchen namens Alma – hier hielt Litvinoff inne und knackte mit den Fingern – einem zum ersten Mal ihre Hand genau unter die Rippen legt: Über dieses Gefühl haben sie nur Theorien, keine feste Vorstellung. Gäbe man ihnen eine Schneekugel in die Hand, wüssten sie womöglich nicht einmal, wie man sie schüttelt.
Auch träumen sie nicht. Aus diesem Grund haben sie eine Sache weniger, über die sie reden können. In Hinblick auf das Zurückliegende fühlen sie sich beim Aufwachen, als wäre da etwas, was sie vergessen hätten, einander zu erzählen. Es herrscht Uneinigkeit unter den Engeln, ob sich dies aus einer Verkümmerung ergibt oder aus der Empathie, die sie für die Lebenden empfinden, so heftig bringt es sie manchmal zum Weinen. Im Allgemeinen spalten sie sich
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