Die Geschichte der Liebe (German Edition)
weiß, du hast deinen Opa nicht gekannt. In vielen Dingen war er ganz wunderbar. Aber er war auch ein schwieriger Mensch. Beherrschend wäre ein nettes Wort dafür. Er hatte sehr strenge Regeln, wie deine Mum und ich leben sollten.» Der Grund, warum ich meinen Opa kaum kannte, war der, dass er ein paar Jahre nach meiner Geburt bei einem Erholungsaufenthalt in einem Hotel in Bournemouth an Altersschwäche gestorben war. «Charlotte hat das meiste abgekriegt, weil sie die Älteste und ein Mädchen war. Ich glaube, darum hat sie es immer abgelehnt, dir und Bird zu sagen, was oder wie ihr etwas tun solltet.» – «Außer beim guten Benehmen», betonte ich. «Nein, sie beschränkt sich doch nicht aufs Benehmen, oder? Ich meine, was ich sagen wollte, ist, dass sie vielleicht manchmal etwas entrückt scheint. Sie hat ihre eigenen Sachen, mit denen sie fertig werden muss. Die eine ist, dass sie deinen Dad vermisst. Sich gegen ihren eigenen Vater aufzulehnen ist eine andere. Aber du weißt, wie sehr sie dich liebt, Al, nicht wahr?» Ich nickte. Onkel Julian lächelte immer etwas schief, weil sich ein Mundwinkel weiter nach oben verzog als der andere, als weigere sich etwas in ihm, mit dem Rest zusammenzuarbeiten. «Also dann», sagte er und hob sein Glas. «Auf dass du bald fünfzehn wirst und ich dieses verdammte Buch fertig kriege.»
Wir stießen an. Dann erzählte er mir die Geschichte, wie er sich in Alberto Giacometti verliebt hatte, als er fünfundzwanzig war. «Und wie hast du dich in Tante Frances verliebt?», fragte ich. «Oh», sagte Onkel Julian und wischte sich die Stirn, die feucht und glänzend war. Er bekam eine kleine Glatze, die ihm aber gut stand. «Willst du das wirklich wissen?» – «Ja.» – «Sie trug lange blaue Strümpfe.» – «Wie meinst du das?» – «Ich sah sie im Zoo vor dem Schimpansenkäfig, und sie trug leuchtend blaue Strümpfe. Und ich dachte: Das ist das Mädchen, das ich heiraten werde.» – «Wegen ihrer Strümpfe?» – «Ja. Das Licht schien wunderschön auf sie. Und sie war vollständig von einem Schimpansen gebannt. Aber hätte sie nicht die Strümpfe getragen, glaube ich nicht, dass ich je zu ihr hingegangen wäre.» – «Denkst du manchmal darüber nach, was passiert wäre, wenn sie die Strümpfe an diesem Tag nicht angezogen hätte?» – «Die ganze Zeit», sagte Onkel Julian. «Vielleicht wäre ich dann ein viel glücklicherer Mensch geworden.» Ich schob das Tikka Masala auf meinem Teller herum. «Aber wahrscheinlich nicht.» – «Und was, wenn du es doch geworden wärest?», fragte ich. Onkel Julian seufzte. «Fange ich einmal an, darüber nachzudenken, ist es schwierig, mir überhaupt irgendetwas – Glück oder sonst was – ohne sie vorzustellen. Ich habe so lange mit Frances zusammengelebt, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie das Leben mit einem anderen Menschen aussehen oder wie es sich anfühlen würde.» – «Einem wie Flo?», sagte ich. Onkel Julian blieb der Bissen im Hals stecken. «Wie kommst du auf Flo?» – «Ich habe deinen angefangenen Brief im Abfallkorb gefunden.» Sein Gesicht lief rot an. Ich blickte nach oben, auf die Landkarte von Indien an der Wand. Jede Vierzehnjährige sollte wissen, wo sich der geographische Standort von Kalkutta befindet. Es reicht nicht, durch die Gegend zu spazieren ohne die leiseste Ahnung, wo Kalkutta liegt. «Verstehe», sagte Onkel Julian. «Also gut, Flo ist eine Kollegin von mir am Courtauld Institute. Und sie ist eine gute Freundin, worauf Frances immer etwas eifersüchtig war. Es gibt gewisse Dinge – wie soll ich das ausdrücken, Al? Na schön. Ich will dir ein Beispiel geben. Darf ich dir ein Beispiel geben?» – «Von mir aus.» – «Es gibt ein Selbstporträt von Rembrandt. Es hängt in Kenwood House, ganz in der Nähe von dort, wo wir wohnen. Als du klein warst, haben wir dich einmal mitgenommen. Erinnerst du dich?» – «Nein.» – «Macht nichts. Es geht darum, dass es eines meiner Lieblingsgemälde ist. Ich sehe es mir ziemlich oft an. Ich mache einen Spaziergang, gehe durch die Heide, und dann lande ich dort. Es ist eines der letzten Selbstporträts, die er gemacht hat. Er malte es irgendwann zwischen 1665 und seinem Tod vier Jahre später, bankrott und allein. Ganze Flächen der Leinwand sind leer. Die Pinselstriche haben eine gehetzte Intensität – man sieht, wo er mit dem Pinselstiel in der nassen Farbe gekratzt hat. Es ist, als habe er gewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
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