Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Trotzdem ist da eine gewisse Heiterkeit in seinem Gesicht, ein Ausdruck von etwas, das sein eigenes Ende überlebt hat.» Ich rutschte tiefer ins Polster der Sitzbank und schlenkerte mit dem Fuß, wobei ich Onkel Julian versehentlich ans Bein trat. «Was hat das mit Tante Frances und Flo zu tun?», fragte ich. Einen Augenblick wirkte er verloren. «Ich weiß wirklich nicht», sagte er, wischte sich erneut die Stirn und verlangte die Rechnung. Schweigend saßen wir da. Onkel Julians Mund zuckte. Er nahm einen Zwanziger aus der Geldbörse, faltete ihn in ein kleines Rechteck und dieses in ein noch kleineres Rechteck. Dann sagte er sehr schnell: «Fran war das Gemälde scheißegal», und führte sein leeres Bierglas an die Lippen.
«Wenn du es wissen willst, ich finde nicht, dass du ein Hund bist», sagte ich. Onkel Julian lächelte. «Darf ich dich etwas fragen?», sagte ich, während der Ober das Wechselgeld holte. «Natürlich.» – «Haben Mom und Dad je gestritten?» – «Das will ich doch annehmen. Bestimmt, manchmal. Nicht mehr als alle anderen.» – «Glaubst du, Dad hätte gewollt, dass Mom sich wieder verliebt?» Onkel Julian schenkte mir ein schiefes Lächeln. «Das tue ich», sagte er. «Ich glaube, das hätte er sehr gern gewollt.»
9. MERDE
Als wir nach Hause kamen, war meine Mutter hinter dem Haus im Garten. Durchs Fenster sah ich sie in einem dreckigen Overall am Boden knien und im letzten Tageslicht Blumen pflanzen. Ich stieß die Fliegendrahttür auf. Das alte Laub war weggekehrt, alles, was jahrelang ins Kraut geschossen war, gejätet, und vier schwarze Müllsäcke standen neben der eisernen Gartenbank, auf der nie jemand saß. «Was machst du da?», rief ich. «Chrysanthemen und Astern pflanzen», sagte sie. – «Wieso das?» – «Ich war gerade in Stimmung.» – «Wieso in Stimmung?» – «Heute Nachmittag habe ich wieder ein paar Kapitel abgeschickt, und da dachte ich mir, ich mach etwas Entspannendes.» – «Was?» – «Ich sagte, ich habe wieder ein paar Kapitel an Jacob Marcus abgeschickt, und da wollte ich ein bisschen entspannen», wiederholte sie. Ich konnte es nicht glauben. «Du hast die Kapitel selber abgeschickt? Sonst gibst du mir doch immer alles, damit ich es zur Post bringe!» – «Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass dir das so viel bedeutet. Aber du warst sowieso den ganzen Tag weg. Und ich wollte es aus dem Haus haben. Da habe ich es eben selbst gemacht.» SELBST GEMACHT?, wollte ich schreien. Meine Mutter, ihre eigene Spezies, setzte eine Blume in ein Loch und fing an, es mit Erde zu füllen. Sie wandte sich um und sah mich über die Schulter an. «Dad liebte es, im Garten zu arbeiten», sagte sie, als hätte ich ihn nicht gekannt.
10. ERINNERUNGEN, DIE MEINE MUTTER MIR VERMITTELT HAT
Wegen der Schule im Stockdunkeln aufstehen
Nahe ihrem Elternhaus in Stamford Hill in den Trümmern ausgebombter Häuser spielen
Der Geruch alter Bücher, die ihr Vater aus Polen mitgebracht hatte
Das Gefühl der großen Hand ihres Vaters auf ihrer Hand, wenn er freitagabends den Segen sprach
Die türkische Gulet, auf der sie von Marseille nach Haifa fuhr; ihre Seekrankheit
Die große Stille und die leeren Felder Israels, aber auch das Summen der Insekten während ihrer ersten Nacht im Kibbuz Yavne, das der Stille und der Leere Tiefe und Räumlichkeit verlieh
Die Zeit, als mein Vater mit ihr ans Tote Meer fuhr
Sand in den Taschen ihrer Kleider fühlen
Der blinde Fotograf
Mein Vater beim Autofahren mit einer Hand am Lenkrad
Regen
Mein Vater
Tausende von Seiten
11. WIE MAN DAS HERZ WIEDER ZUM SCHLAGEN BRINGT
Kapitel 1 bis 28 der Geschichte der Liebe lagen aufgestapelt neben dem Computer meiner Mutter. Ich durchsuchte den Papierkorb, aber es waren keine Entwürfe der Briefe, die sie Marcus geschickt hatte, zu finden. Das Einzige war ein zerknülltes Blatt, auf dem stand: Zurück in Paris, kamen Alberto Zweifel.
12. ICH GAB AUF
Das war das Ende meiner Suche nach jemandem, der meine Mutter wieder glücklich machen würde. Ich verstand endlich, dass ich tun oder finden konnte, was oder wen ich wollte, ich, er, niemand von uns würde je in der Lage sein, ihre Erinnerungen an Dad zu bezwingen, Erinnerungen, die sie besänftigten, so traurig sie auch waren, weil sie sich eine Welt daraus gebaut hatte, in der sie, wenn auch sonst niemand, überleben konnte.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Atemgeräusche sagten mir, dass auch Bird wach war. Ich wollte ihn fragen, was mit dem
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