Die Geschichte der Liebe (German Edition)
sein können, wäre Litvinoff nicht jedes Mal, wenn er durchs Fenster die weiße Hortensie seiner Vermieterin sah, an das erinnert worden, was er vergessen wollte. Als es Frühling wurde, begann er den Strauch wie besessen zu beobachten, halbwegs in der Erwartung, sein Geheimnis werde Blüten treiben. Eines Nachmittags steigerte sich seine Spannung, als er sah, wie die Vermieterin rund um den Strauch einige Tulpen pflanzte. Sobald er die Augen schloss, um zu schlafen, verfolgten ihn im Geist die großen weißen Blüten. Es wurde immer schlimmer, das Gewissen quälte ihn mehr und mehr, bis er am letzten Abend bevor er und Rosa heiraten und in den Bungalow auf den Klippen ziehen wollten, in kalten Schweiß gebadet aufstand, sich mitten in der Nacht hinausstahl und seine Last ein für alle Mal wieder ausgrub. Von da an bewahrte er sie unter Verschluss in einer Schreibtischschublade im Arbeitszimmer des neuen Hauses auf, wobei er den Schlüssel gut versteckt zu haben glaubte.
Wir wachten immer um fünf oder sechs in der Frühe auf , schrieb Rosa im letzten Absatz ihrer Einleitung zur zweiten und letzten Auflage der Geschichte der Liebe . Es war ein glühend heißer Januar, in dem er starb. Ich schob sein Bett oben ans offene Fenster. Die Sonne strömte zu uns herein, und er warf die Decken zurück, zog sich alles vom Leib und ließ sich in der Sonne bräunen, wie wir es jeden Morgen taten, denn um acht Uhr kam die Krankenschwester, und dann wurde der Tag ziemlich schrecklich. Medizinische Fragen, die uns beide nicht interessierten. Zvi hatte keine Schmerzen. Ich fragte ihn: «Hast du Schmerzen?» Und er sagte: «Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht so wohl gefühlt.» An jenem Morgen sahen wir auf den Himmel hinaus, und er war wolkenlos und strahlend. Zvi, der gerade ein Buch mit chinesischen Gedichten las, hatte eines aufgeschlagen, von dem er sagte, es sei für mich. Es hieß «Setz die Segel morgen». Es ist sehr kurz und beginnt mit den Worten: Setz die Segel morgen!/Bis dahin wird der Wind sich legen/Dann kannst du gehn/Und ich muss mich nicht sorgen. Dem Morgen, an dem er starb, war ein schweres Unwetter vorausgegangen, ein Sturm im Garten, die ganze Nacht, aber als ich das Fenster aufmachte, war der Himmel klar. Kein Lüftchen wehte. Ich drehte mich um und rief ihm zu: «Liebling, der Wind hat sich gelegt!» Und er sagte: «Dann kann ich gehn, und du wirst dich nicht sorgen?» Ich dachte, mich trifft der Schlag. Aber es war wahr. Und so war es, einfach so.
Aber es war nicht einfach so. Nicht ganz. Am Abend bevor er starb, als der Regen aufs Dach prasselte und durch die Rinnen strömte, hatte Litvinoff Rosa gerufen. Sie war dabei gewesen, das Geschirr zu spülen, und eilte zu ihm. «Was ist, Liebling?», fragte sie, indem sie die Hand auf seine Stirn legte. Er hustete so stark, dass sie glaubte, er würde Blut spucken. Als es vorüber war, sagte er: «Ich möchte dir etwas erzählen.» Sie wartete, bereit zu hören. «Ich –», begann er, aber der Husten kam wieder, versetzte ihn in Krämpfe. «Schh», sagte Rosa und bedeckte seine Lippen mit den Fingern. «Nicht sprechen.» Litvinoff nahm ihre Hand und drückte sie. «Ich muss», sagte er, und ausnahmsweise willigte sein Körper ein und war still. «Siehst du nicht?», sagte er: «Was soll ich sehen?», fragte sie. Er kniff die Augen zu und schlug sie wieder auf. Sie war noch da, sah ihn zärtlich und besorgt an. Sie tätschelte ihm die Hand. «Ich mache dir einen Tee», sagte sie und schickte sich an zu gehen. «Rosa!», rief er hinter ihr her. Sie wandte sich um. «Ich wollte, dass du mich liebst», flüsterte er. Rosa sah ihn an. In diesem Augenblick kam er ihr vor wie das Kind, das sie nicht hatten. «Und ich habe dich geliebt», sagte sie, indem sie einen Lampenschirm gerade richtete. Dann ging sie aus der Tür, die sie leise hinter sich schloss. Das war das Ende ihrer Unterhaltung.
Man möchte nun meinen, dies seien Litvinoffs letzte Worte gewesen. Aber das waren sie nicht. Später sprachen er und Rosa über den Regen, über Rosas Neffen und darüber, ob sie einen neuen Toaster kaufen sollten, nachdem der alte schon zweimal Feuer gefangen hatte. Doch von der Geschichte der Liebe oder ihrem Autor war nicht mehr die Rede.
Vor Jahren, als ein kleiner Verlag in Santiago sich bereit erklärt hatte, Die Geschichte der Liebe zu drucken, hatte der Lektor einige Vorschläge gemacht, und Litvinoff, der gefällig sein wollte, hatte versucht, die
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