Die Geschichte der Liebe (German Edition)
am Thema der Träume in diese beiden Lager. Sogar unter den Engeln gibt es traurigerweise Zwistigkeiten.
An dieser Stelle stand Litvinoff auf und ging pinkeln, wobei er die Spülung zog, ehe er fertig war, um zu sehen, ob er seine Blase entleeren konnte, bevor sich der Kasten mit frischem Wasser gefüllt hatte. Danach warf er einen Blick in den Spiegel, nahm eine Pinzette aus dem Medizinschränkchen und zupfte sich ein wucherndes Haar aus der Nase. Er durchquerte den Flur zur Küche und wühlte im Schrank nach etwas zu essen. Als er nichts fand, setzte er Wasser zum Kochen auf, nahm selbst wieder am Tisch Platz und fuhr fort abzuschreiben.
VERTRAULICHES. Es stimmt, dass Engel keinen Geruchssinn haben, aber in ihrer unendlichen Liebe zu den Lebenden gehen sie herum und versuchen nacheifernd alles zu riechen. Wie Hunde kennen sie keine Scheu, aufeinander zuzugehen und sich zu beschnüffeln. Manchmal, wenn sie nicht schlafen können, liegen sie im Bett, die Nase in die Achselhöhle vergraben, und fragen sich, wonach sie riechen.
Litvinoff putzte sich die Nase, knüllte das Taschentuch zusammen und ließ es zu seinen Füßen auf den Boden fallen.
DISKUSSIONEN ZWISCHEN ENGELN. Sind ewig und ohne Aussicht auf eine Lösung. Das kommt daher, weil sie darüber diskutieren, was es bedeutet, unter den Lebenden zu sein, und weil sie nicht wissen, dass sie, ähnlich wie die Lebenden, über die Natur Gottes (oder deren Mangel) – hier begann der Kessel zu pfeifen – nur spekulieren können.
Litvinoff stand auf, um sich eine Tasse Tee zu machen. Er öffnete das Fenster und warf einen angefaulten Apfel weg.
ALLEINSEIN. Wie bei den Lebenden kommt es auch bei Engeln vor, dass sie einander überdrüssig werden und allein sein wollen. Da die Häuser, in denen sie leben, voll sind und sie nirgends hinkönnen, bleibt einem Engel in solchen Momenten nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und den Kopf auf die Arme zu senken. Wenn ein Engel dies tut, verstehen die anderen, dass er versucht, sich vorzugaukeln, er wäre allein, und sie schleichen auf Zehenspitzen um ihn herum. Um es ihm einfacher zu machen, reden sie womöglich über ihn, als wäre er nicht da. Wenn sie ihn aus Versehen anstoßen, flüstern sie: «Ich war’s nicht.»
Litvinoff schüttelte seine Hand, die sich zu verkrampfen begann. Dann schrieb er weiter:
IN FREUD UND LEID. Engel heiraten nicht. Erstens sind sie zu beschäftigt, und zweitens verlieben sie sich nicht ineinander. (Wie soll lieben, wer nicht weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand, den man liebt, einem zum ersten Mal die Hand unter die Rippen legt?)
Litvinoff unterbrach, um sich Rosas sanfte Hand unter seinen Rippen vorzustellen, und registrierte erfreut, dass er eine Gänsehaut bekam.
Sie sind kaum anders als ein frischer Wurf junger Hunde: blind, dankbar und hilflos. Das soll nicht heißen, sie empfänden keine Liebe, denn das tun sie durchaus; manchmal so stark, dass sie glauben, einen Panikanfall zu bekommen. In solchen Momenten rast ihr Herz wie wild, und sie fürchten, sich übergeben zu müssen. Aber ihre Liebe gilt nicht ihrer eigenen Art, sondern den Lebenden, die sie weder verstehen noch riechen oder fühlen können. Es ist eine allgemeine Liebe zu den Lebenden (aber darum nicht weniger stark). Nur ab und zu hat ein Engel einen kleinen Defekt, der dazu führt, dass er sich nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen verliebt.
An dem Tag, als Litvinoff die letzte Seite erreichte, packte er das Manuskript seines Freundes Gursky zusammen, mischte die Seiten durcheinander und warf sie in den Abfalleimer unter der Küchenspüle. Aber hier hatte Rosa oft zu tun, und es kam ihm in den Sinn, dass sie sie finden könnte. Also nahm er sie wieder heraus und ließ sie, unter ein paar Abfalltüten versteckt, in den Metalltonnen hinter dem Haus verschwinden. Dann machte er sich zum Schlafengehen fertig. Doch geplagt von der Angst, jemand würde sie finden, war er eine halbe Stunde später wieder draußen und wühlte in den Tonnen, um die Seiten aus dem Müll zu fischen. Er stopfte sie unters Bett und versuchte zu schlafen, jedoch war der Gestank aus den Tonnen zu übel, also stand er wieder auf, suchte eine Taschenlampe, holte eine Gartenschaufel aus dem Schuppen der Vermieterin, grub neben ihrer weißen Hortensie ein Loch, warf die Seiten hinein und bedeckte sie mit Erde. Als er im verdreckten Schlafanzug wieder ins Bett ging, wurde der Himmel schon hell.
Das hätte nun der letzte Akt
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