Die Geschichte der Liebe (German Edition)
selbst gebauten Ding auf dem verwahrlosten Grundstück sei und woher er wusste, dass er ein lamed wownik war, und ihm sagen, es tue mir leid, dass ich ihn wegen der Kritzelei in meinem Notizbuch beschimpft hatte. Ich wollte sagten, dass ich Angst hatte, um ihn und um mich, und wollte ihm die Wahrheit über all die Lügen sagen, die ich ihm all diese Jahre erzählt hatte. Ich flüsterte seinen Namen. «Jaa?», flüsterte er zurück. Ich lag im Dunkeln und der Stille, die nichts waren gegen das Dunkel und die Stille, in denen mein Vater als kleiner Junge in einem Haus an einer ungeteerten Straße in Tel Aviv gelegen, oder das Dunkel und die Stille, die meine Mutter in ihrer ersten Nacht im Kibbuz Yavne empfunden hatte, die aber auch etwas von diesem Dunkel und dieser Stille enthielten. Ich versuchte zu überlegen, was ich sagen wollte. «Ich bin nicht wach», sagte ich schließlich. «Ich auch nicht», sagte Bird.
Später, als Bird endlich eingeschlafen war, machte ich meine Taschenlampe an und las noch ein wenig in der Geschichte der Liebe . Ich dachte darüber nach, wie ich, wenn ich aufmerksam genug las, etwas Wahres über meinen Vater und über die Dinge herausfinden könnte, die er mir hätte sagen wollen, wenn er nicht gestorben wäre.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Ich hörte Bird über mir herumkramen. Als ich die Augen aufschlug, wickelte er die Laken zu einem Knäuel, und der Hosenboden seines Schlafanzugs war nass.
13. DANN WURDE ES SEPTEMBER
Und der Sommer war vorbei, Misha und ich sprachen offiziell nicht miteinander, von Jacob Marcus kamen keine Briefe mehr, und Onkel Julian kündigte seine Rückkehr nach London an, um die Dinge mit Tante Frances zu klären. Am Abend bevor er zum Flughafen fuhr und mein zehntes Schuljahr begann, klopfte er an meine Tür. «Weißt du, was ich dir über Frances und den Rembrandt gesagt habe», sagte er, als ich ihm aufmachte. «Können wir so tun, als hätte ich das nie gesagt?» – «Was willst du gesagt haben?», sagte ich. Er lächelte, indem er die Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen zeigte, die wir beide von meiner Großmutter geerbt hatten. «Danke», sagte er. «Und hier, ich habe etwas für dich.» Er gab mir einen großen Umschlag. «Was ist das?» – «Mach’s auf.» Drinnen war der Katalog einer Kunstschule in der Stadt. «Nur weiter, lies.» Ich schlug den Deckel auf, und ein Stück Papier flatterte auf den Boden. Onkel Julian bückte sich und hob es auf. «Hier», sagte er und wischte sich die Stirn. Es war ein Anmeldeformular. Darauf stand mein Name und der Titel eines Kurses, «Zeichnen nach Modell». «Eine Karte ist auch dabei», sagte er. Ich fasste in den Umschlag. Es war eine Postkarte mit dem Selbstporträt von Rembrandt. Auf der Rückseite stand: Liebe Al, Wittgenstein hat einmal geschrieben, wenn die Augen etwas Schönes sähen, wollten die Hände es zeichnen. Ich wünschte, ich könnte dich zeichnen. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Baldigen. Alles Liebe, dein Onkel Julian.
DIE LETZTE SEITE
Am Anfang ging es leicht. Litvinoff tat so, als vertreibe er sich einfach nur die Zeit, kritzelte, während er Radio hörte, in geistesabwesender Zerstreutheit vor sich hin, genau wie seine Schüler Männchen malten, während er Unterricht erteilte. Eines, was er nicht tat, war, sich an den Zeichentisch zu setzen, in den der Sohn seiner Vermieterin das wichtigste aller jüdischen Gebete geschnitzt hatte, und bei sich zu denken: Ich bin im Begriff, meinen von den Nazis ermordeten Freund zu plagiieren. Er dachte auch nicht: Wenn sie glaubt, ich hätte dies geschrieben, wird sie mich lieben. Er schrieb einfach nur die erste Seite ab, was auf ganz natürliche Weise zum Abschreiben der zweiten führte.
Erst als er bei der dritten Seite anlangte, tauchte Almas Name auf. Er hielt inne. Er hatte bereits einen Feingold aus Wilna in einen De Biedma aus Buenos Aires verwandelt. Wäre es denn ein Verbrechen, Alma in Rosa abzuwandeln? Drei schlichte Buchstaben – das «a» am Ende konnte bleiben. Jetzt war er schon so weit gegangen. Er senkte den Füller auf die Seite. Wie auch immer, sagte er sich, Rosa war die Einzige, die es lesen würde.
Aber wenn Litvinoffs Hand stockte, als er ansetzte, ein großes R dorthin zu schreiben, wo ein großes A gewesen war, so vielleicht, weil er der einzige Mensch außer dem wahren Autor war, der Die Geschichte der Liebe gelesen hatte und die wirkliche Alma kannte. Tatsächlich hatte er sie von ihrer beider
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