Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Änderungen auszuführen. Manchmal konnte er sich sogar beinahe einreden, dass es nicht schlimm war, was er da tat: Gursky war tot, immerhin würde das Buch am Ende veröffentlicht und gelesen, war das nicht etwas? Doch als Antwort auf diese rhetorische Frage zeigte ihm sein Gewissen die kalte Schulter. Verzweifelt, weil er nicht mehr wusste, was er tun sollte, nahm er in jener Nacht auch eine Änderung vor, um die der Lektor nicht gebeten hatte. Er schloss die Tür seines Arbeitszimmers ab, griff sich in die Brusttasche und entfaltete das Stück Papier, das er jahrelang mit sich herumgetragen hatte. Er entnahm der Schreibtischschublade ein neues Blatt. Oben hin schrieb er: 39. KAPITEL: DER TOD DES LEOPOLD GURSKY. Dann kopierte er die Seite Wort für Wort und übersetzte sie, so gut er es vermochte, ins Spanische.
Nach Erhalt des korrigierten Manuskripts schrieb der Lektor an Litvinoff. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, am Schluss ein neues Kapitel hinzuzufügen? Ich werde es streichen – es hat mit nichts etwas zu tun. Es war Ebbe, Litvinoff blickte von dem Brief auf und sah den Seemöwen zu, die um etwas zankten, was sie auf den Felsen gefunden hatten. Wenn Sie das tun , schrieb er zurück, ziehe ich das Buch zurück. Einen Tag war Schweigen. Um Himmels willen!, kam die Antwort des Lektors. Seien Sie nicht so empfindlich. Litvinoff zog seinen Federhalter aus der Tasche. Es steht nicht zur Diskussion , schrieb er.
So kam es, dass Litvinoff, als der Regen am nächsten Morgen endlich aufhörte und er in Sonnenlicht gebadet ruhig in seinem Bett starb, sein Geheimnis nicht mit ins Grab nahm. Jedenfalls nicht ganz. Man brauchte nur, und das stand jedem frei, die letzte Seite aufzuschlagen, um in Druckbuchstaben schwarz auf weiß den Namen des wahren Autors der Geschichte der Liebe zu finden.
Im Bewahren von Geheimnissen war Rosa eindeutig die Bessere der beiden. So hatte sie zum Beispiel nie jemandem erzählt, wie sie ihre Mutter auf einem Gartenfest ihres Onkels den portugiesischen Botschafter hatte küssen sehen. Oder wie das Dienstmädchen eine goldene Kette, die ihrer Schwester gehörte, in der Schürzentasche verschwinden ließ. Oder dass ihr Cousin Alfonso, für den die Mädchen um seiner grünen Augen und vollen Lippen willen schwärmten, mehr auf Jungen stand oder dass ihr Vater vor Kopfschmerzen oft weinen musste. Und so wird es kaum überraschen, dass sie auch niemandem je von dem Brief erzählte, der, an Litvinoff adressiert, ein paar Monate nach dem Erscheinen der Geschichte der Liebe angekommen war. Er trug einen Stempel aus Amerika, und Rosa hatte angenommen, es handele sich um die verspätete Absage eines der New Yorker Verleger. In ihrer Sorge, Litvinoff gegen jede Kränkung abzuschirmen, ließ sie ihn in einer Schublade verschwinden, wo er in Vergessenheit geriet. Einige Monate später, als sie eine Adresse suchte, fand sie ihn wieder und machte ihn auf. Zu ihrer Überraschung war er auf Jiddisch. Lieber Zvi, stand da. Damit du keinen Herzinfarkt bekommst, sage ich dir gleich, ich bin es, dein alter Freund Leo Gursky. Wahrscheinlich wunderst du dich, dass ich noch am Leben bin, und manchmal wundere ich mich selber. Ich schreibe aus New York, wo ich jetzt lebe. Wer weiß, ob dieser Brief dich erreicht. Vor ein paar Jahren habe ich einen an die einzige Adresse geschickt, die ich von dir hatte, aber er kam zurück. Wie ich die jetzige aufgespürt habe, ist eine lange Geschichte. Überhaupt wäre viel zu sagen, aber das ist zu schwer in einem Brief. Ich hoffe, dass es dir gut geht, dass du glücklich bist und ein gutes Leben hast. Natürlich habe ich mich immer gefragt, ob du das Päckchen aufbewahrt hast, das ich dir gab, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es enthielt das Buch, an dem ich schrieb, als wir beide in Minsk waren. Wenn du es hast, würdest du es mir bitte zurückschicken? Es ist jetzt für niemanden außer mir noch etwas wert. In herzlicher Verbundenheit, L.G.
Langsam dämmerte Rosa die Wahrheit: Etwas Schreckliches war passiert. Es war grotesk, wirklich; es machte sie ganz krank im Bauch, nur daran zu denken. Und sie war mitschuldig. Jetzt fiel ihr der Tag wieder ein, als sie den Schlüssel zu seiner Schreibtischschublade entdeckt, sie aufgeschlossen und den Stapel schmutziger Seiten in einer ihr unbekannten Handschrift gefunden und sich dafür entschieden hatte, nicht zu fragen. Ja, Litvinoff hatte sie belogen. Aber mit höchst unbehaglichen Gefühlen fiel ihr ein,
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