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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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dass sie diejenige gewesen war, die darauf gedrängt hatte, er solle das Buch veröffentlichen. Er hatte mit ihr gestritten, gesagt, es sei zu persönlich, eine Privatangelegenheit, aber sie hatte gebohrt und gebohrt, seinen Widerstand ausgehöhlt, bis er schließlich schwach wurde und sein Einverständnis gab. Aber war es nicht das, was von Künstlerfrauen erwartet wurde, ihr ganzes Eheglück? Dass sie die Welt beglückten mit ihrer Männer Werk, das ohne sie in der Versenkung verschwände?
    Als der Schock nachließ, riss Rosa den Brief in Stücke, die sie im Klo hinunterspülte. Schnell dachte sie nach, was zu tun sei. Sie setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche, holte ein Blatt weißes Briefpapier heraus und schrieb: Lieber Mr.   Gursky, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Zvi, mein Ehemann, zu krank ist, um selbst zu antworten. Er hat sich sehr über Ihren Brief gefreut, vor allem zu hören, dass Sie am Leben sind. Unglücklicherweise wurde Ihr Manuskript bei einer Überschwemmung in unserem Hause zerstört. Ich hoffe, Sie können uns verzeihen.
    Am nächsten Tag packte sie ein Picknick und kündigte Litvinoff einen Ausflug in die Berge an. Nach der ganzen Aufregung um das kürzliche Erscheinen seines Buches brauche er etwas Entspannung, sagte sie. Sie überwachte das Einladen der Vorräte ins Auto. Als Litvinoff den Motor anließ, schlug Rosa sich an den Kopf. «Fast hätte ich die Erdbeeren vergessen», sagte sie und rannte ins Haus zurück.
    Drinnen ging sie schnurstracks in Litvinoffs Arbeitszimmer, fummelte den kleinen Schlüssel ab, der unter seiner Schreibtischplatte klebte, steckte ihn in die Schublade und holte ein Bündel verzogener, dreckiger Seiten heraus, die nach Humus rochen. Sie legte es auf den Fußboden. Dann nahm sie, als zusätzliche Maßnahme, das in Litvinoffs Handschrift geschriebene jiddische Manuskript aus einem hohen Regal und legte es in ein Fach weiter unten. Auf dem Weg hinaus drehte sie den Hahn über dem Waschbecken auf und stöpselte den Abfluss zu. Beobachtend blieb sie stehen, bis das Becken voll Wasser war und überzulaufen begann. Dann schloss sie die Tür zum Arbeitszimmer ihres Ehemanns, schnappte sich im Flur das Körbchen mit den Erdbeeren vom Tisch und eilte zum Auto hinaus.

MEIN LEBEN UNTER WASSER
    1. DIE SEHNSUCHT ZWISCHEN DEN ARTEN
Nach Onkel Julians Abreise wurde meine Mutter noch verschlossener, oder vielleicht wäre obskur ein besseres Wort, im Sinne von schwach, matt, entrückt. Leere Teetassen sammelten sich um sie, Wörterbuchseiten fielen ihr zu Füßen. Sie vernachlässigte den Garten, und die Chrysanthemen und Astern, die sich ihr bis zum ersten Frost anvertraut hatten, ließen die mit Wasser voll gesogenen Köpfe hängen. Von den Verlagen kamen Briefe mit Anfragen, ob sie Interesse hätte, dieses oder jenes Buch zu übersetzen. Sie blieben unbeantwortet. Die einzigen Anrufe, die sie entgegennahm, waren die von Onkel Julian, und wenn sie mit ihm sprach, schloss sie immer die Tür.
Mit jedem Jahr werden die Erinnerungen an meinen Vater schwächer, matter und entrückter. Früher waren sie lebendig und echt, dann wie Fotos, und jetzt sind sie mehr wie Fotos von Fotos. Aber manchmal, in seltenen Momenten, kehrt eine Erinnerung an ihn so plötzlich und klar zurück, dass alle Gefühle, die ich jahrelang unterdrückt habe, wie ein Springteufel hervorschießen. Dann frage ich mich, ob es sich so anfühlen mag, meine Mutter zu sein.
    2 . SELBSTPORTRÄT MIT BRÜSTEN
Jeden Dienstagabend fuhr ich mit der Subway in die Stadt und ging zu «Zeichnen nach Modell». In der ersten Stunde fand ich heraus, was das bedeutete. Nämlich: hundertprozentig nackte Leute zu zeichnen, die dafür bezahlt wurden, reglos mitten in dem von unseren Stühlen gebildeten Kreis zu stehen. Ich war bei weitem die Jüngste im Kurs. Ich versuchte lässig zu wirken, als hätte ich jahrelang nackte Menschen gezeichnet. Das erste Modell war eine Frau mit Hängebusen, krausem Haar und roten Knien. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Um mich herum beugten sich die Kursteilnehmer über ihre Skizzenblocks und zeichneten wie wild. Ich machte ein paar unsichere Striche aufs Papier. «Denkt an die Nippel, Leute», rief die Lehrerin, während sie im Kreis herumging. Ich fügte Nippel hinzu. Als sie zu mir kam, sagte sie: «Darf ich?», und hielt meine Zeichnung für die anderen hoch. Sogar das Modell drehte sich danach um. «Wisst ihr, was das ist?», sagte sie, auf meine Zeichnung deutend.

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