Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Einige schüttelten den Kopf. «Ein Frisbee mit Nippel», sagte sie. «Tut mir leid», murmelte ich. «Es soll dir nicht leid tun», sagte die Lehrerin und legte mir die Hand auf die Schulter. «Du sollst schattieren .» Dann zeigte sie dem Kurs, wie man meinen Frisbee in eine dicke Brust verwandelte.
Das Modell am zweiten Abend sah fast genauso aus wie das am ersten. Immer wenn die Lehrerin vorbeikam, beugte ich mich über mein Werk und schraffierte heftig.
3 . WIE MAN SEINEN BRUDER WASSERDICHT MACHT
Der Regen begann Ende September, wenige Tage vor meinem Geburtstag. Es regnete eine ganze Woche, und immer wenn es so aussah, als käme die Sonne gleich heraus, wurde sie wieder zurückgedrängt, und es regnete weiter. Ein paar Tage lang goss es so, dass Bird seine Arbeit an dem Müllturm einstellen musste, obwohl er eine Plane über die Hütte gelegt hatte, die dadurch obenherum Gestalt annahm. Vielleicht baute er ein Versammlungshaus für lamed wowniks . Zwei Wände bestanden aus alten Brettern, und für die beiden anderen hatte er Pappkartons aufeinander gestapelt. Abgesehen von der durchhängenden Plane gab es noch kein Dach. Eines Nachmittags blieb ich stehen und beobachtete, wie er die an eine Seite des Haufens gelehnte Leiter herunterkletterte. Er trug ein großes Stück Eisenschrott. Ich wollte ihm helfen, aber ich wusste nicht, wie.
4. JE LÄNGER ICH DARÜBER NACHDACHTE, UMSO MEHR TAT MIR DER BAUCH WEH
Am Morgen meines fünfzehnten Geburtstags wurde ich von Bird geweckt, der «RAUS AUS DEN FEDERN!» rief, gefolgt von «For She’s a Jolly Good Fellow», dem Geburtstagslied, das unsere Mutter für uns gesungen hatte, als wir klein waren, und das Bird übernommen und beibehalten hat. Sie selbst kam etwas später herein und legte ihre Geschenke neben das von Bird auf mein Bett. Die Stimmung war unbeschwert und fröhlich, bis ich Birds Geschenk auspackte und es sich als orangefarbene Schwimmweste entpuppte. Einen Moment, während ich sie, in ihre Verpackung geschmiegt, anstarrte, herrschte Stille.
«Eine Schwimmweste!», rief meine Mutter. «Was für eine tolle Idee. Wo hast du die denn her, Bird?», fragte sie und befühlte mit echter Bewunderung die Gurte. «Wie praktisch», sagte sie.
Praktisch?, wollte ich schreien. PRAKTISCH?
Ich fing an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Was, wenn Birds Religiosität nicht nur eine vorübergehende Phase war, sondern andauernder Fanatismus? Meine Mutter meinte, es sei eben seine Art, mit Dads Verlust umzugehen, und eines Tages würde er darüber hinwegkommen. Aber was, wenn sein Glaube mit zunehmendem Alter trotz aller Gegenbeweise nur stärker wurde? Was, wenn er nie Freunde fand? Wenn er jemand wurde, der im dreckigen Mantel durch die Stadt lief und Schwimmwesten austeilte, einer, der die Welt verleugnen musste, weil sie nicht mit seinem Traum vereinbar war?
Ich suchte sein Tagebuch, aber er hatte es hinter dem Bett weggenommen, und ich konnte es nirgends finden. Stattdessen fand ich unter meinem Bett, zwischen schmutzigen Kleidungsstücken und seit zwei Wochen überfällig, Die Straße der Krokodile von Bruno Schulz.
5. EINMAL
Ich fragte meine Mutter beiläufig, ob sie schon mal von Isaac Moritz gehört habe, dem Schriftsteller, von dem der Portier in der East 52 nd Street gesagt hatte, er sei Almas Sohn. Sie saß im Garten auf der Bank und starrte einen großen Quittenbusch an, als würde er gleich etwas sagen. Zuerst hörte sie mich nicht. «Mom?», wiederholte ich. Sie drehte sich um und schien überrascht, mich zu sehen. «Ich sagte, hast du schon mal von einem Schriftsteller namens Isaac Moritz gehört?» Sie sagte ja. «Hast du mal ein Buch von ihm gelesen?», fragte ich. «Nein.» – «Glaubst du, er hätte eine Chance, den Nobelpreis zu kriegen?» – «Nein.» – «Woher weißt du das, wenn du noch nie ein Buch von ihm gelesen hast?» – «Ich spekuliere», sagte sie, weil sie nie zugeben würde, dass sie nur Toten Nobelpreise verleiht. Dann starrte sie wieder auf den Quittenbusch.
In der Bücherei gab ich «Isaac Moritz» in den Computer ein. Er warf sechs Titel aus. Der, von dem es die meisten Exemplare gab, hieß Das Heilmittel . Ich schrieb mir die Signaturen auf, und als ich Moritz’ Bücher fand, nahm ich Das Heilmittel aus dem Regal. Auf der Rückseite war ein Foto des Autors. Es war ein seltsames Gefühl, in sein Gesicht zu schauen und zu wissen, dass der Mensch, nach dem ich benannt worden war, ihm sehr ähnlich gesehen haben musste. Er hatte lockiges
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