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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Wasserschlacht, die wir vor hundert Jahren mal ausgefochten hatten, und ich empfand einen Stich Traurigkeit, dass Herman nächstes Jahr weg sein würde, um sein Leben zu beginnen.
    19. WEISS ICH EBEN
Nach ewiger Suche fanden wir schließlich die ungeteerte Straße zu Isaac Moritz’ Haus. Wir müssen zwei- oder dreimal daran vorbeigefahren sein, ohne sie zu bemerken. Ich hatte schon aufgeben wollen, aber Herman nicht. Meine Hände wurden feucht, als wir den matschigen Weg entlangfuhren, weil ich noch nie einem berühmten Schriftsteller begegnet war und erst recht keinem, dem ich einen gefälschten Brief geschrieben hatte. Moritz’ Hausnummer war an einen großen Ahornbaum genagelt. «Woher weißt du, dass es ein Ahorn ist?», fragte Herman. «Weiß ich eben», sagte ich und ersparte ihm die Einzelheiten. Dann erblickte ich den See. Herman fuhr bis zum Haus, dann stellte er den Motor ab. Plötzlich war es sehr still. Ich beugte mich hinunter und band meine Turnschuhe zu. Als ich mich wieder aufsetzte, sah er mich an. Sein Gesicht war hoffnungsvoll und ungläubig und auch etwas traurig, und ich fragte mich, ob es irgendeine Ähnlichkeit mit dem Gesicht meines Vaters hatte, als er vor all den Jahren am Toten Meer meine Mutter ansah und eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, die mich schließlich hierher gebracht hatten, irgendwo ins Nirgendwo, mit einem Jungen, mit dem ich aufgewachsen war, den ich aber kaum kannte.
    20. SCHALLWORT, SCHALM, SCHALMEI, SCHALMEN
Ich stieg aus dem Auto und holte tief Atem.
Ich dachte: Ich heiße Alma Singer, Sie kennen mich nicht, aber ich wurde nach Ihrer Mutter benannt.
    21. SCHALOBST, SCHALOM, SCHALOTTE, SCHALT
Ich klopfte an die Tür. Keine Antwort. Ich drückte auf die Klingel, aber es rührte sich noch immer nichts, also ging ich ums Haus herum und schaute in die Fenster. Drinnen war es dunkel. Als ich von meiner Runde zurückkam, lehnte Herman mit verschränkten Armen am Auto.
    22. ICH BESCHLOSS, DASS ES NICHTS MEHR ZU VERLIEREN GAB
Wir saßen zusammen auf der Veranda vor Isaac Moritz’ Haus, ließen die Beine baumeln und beobachteten den Regen. Ich fragte Herman, ob er schon einmal von Antoine de Saint-Exupéry gehört habe, und als er nein sagte, fragte ich, ob von Der Kleine Prinz , und er glaubte schon. Also erzählte ich ihm von der Zeit, als Saint-Ex in der Libyschen Wüste notgelandet war, den mit einem ölbefleckten Lumpen gesammelten Tau von den Tragflächen trank und sich Hunderte von Kilometern durch die Wüste schleppte, vollkommen dehydriert und delirierend vor Hitze und vor Kälte. Als ich zu dem Teil kam, wie er von Beduinen gefunden wurde, schob Herman seine Hand in meine, und ich dachte: Im Durchschnitt sterben jeden Tag vierundsiebzig Arten aus, was ein guter, aber nicht der einzige Grund war, jemandes Hand zu halten, und das Nächste war, dass wir uns küssten, und ich stellte fest, dass ich wusste, wie es ging, und fühlte mich ebenso glücklich, wie ich traurig war, weil ich merkte, dass ich mich verliebt hatte, aber nicht in ihn.
Wir warteten lange, aber Isaac kam nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also hinterließ ich eine Notiz mit meiner Telefonnummer an der Tür.
Anderthalb Wochen später – ich erinnere mich an das Datum, den 5. Oktober – sagte meine Mutter, die gerade Zeitung las: «Weißt du noch, dieser Schriftsteller, nach dem du mich gefragt hast, Isaac Moritz?», und ich sagte «Ja», und sie sagte: «Hier steht ein Nachruf auf ihn in der Zeitung.»
An diesem Abend ging ich nach oben in ihr Arbeitszimmer. Ihr blieben noch fünf Kapitel der Geschichte der Liebe , und sie wusste nicht, dass sie die jetzt nur noch für mich und niemanden sonst übersetzte.
«Mom?», sagte ich. Sie wandte sich um. «Kann ich über etwas mit dir sprechen?»
«Natürlich, Liebes. Komm her.»
Ich ging ein paar Schritte ins Zimmer. Es gab so viel, was ich sagen wollte.
«Ich möchte, dass du –», sagte ich, und dann fing ich an zu weinen.
«Dass ich was?», sagte sie und breitete die Arme aus.
«Nicht traurig bist», sagte ich.

EINE SCHÖNE SACHE
    28. September

    Heute ist der 10. Regentag hintereinander. Dr.   Vishnubaka hat gesagt, eine schöne Sache, die ich in mein Tagebuch schreiben könnte, wären meine Gedanken und Gefühle. Er sagte, wenn ich will, dass er etwas darüber erfährt, wie ich fühle, aber nicht darüber sprechen will, kann ich ihm einfach mein Tagebuch geben. Ich sagte nicht: Haben Sie noch nie das Wort PERSÖNLICH gehört?

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