Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Haus zu suchen und es für seine Rückkehr bereitzuhalten. Sie werden Manon also wiedersehen, und ich habe den Auftrag, Ihnen tausend Küsse auszurichten und Ihnen zu beteuern, dass sie Sie mehr liebe denn je.»
Ich setzte mich nieder und sann über diese bizarre Fügung meines Schicksals nach. Ich befand mich in einem Zwiespalt der Empfindungen und dementsprechend in einer Beklommenheit, der so schwer beizukommen war, dass ich lange Zeit nicht auf die vielen Fragen antwortete, die Lescaut mir in rascher Folge stellte. Es war in dem Moment so, dass Ehre und Tugend mich immer noch Gewissensbisse empfinden ließen und dass ich seufzend den Blick nach Amiens richtete, nach dem Haus meines Vaters, nach Saint-Sulpice und nach all jenen Orten, an denen ich in Unschuld gelebt hatte. Welch ungeheure Kluft trennte mich nun von jenem glücklichen Zustand! Nur noch von fern sah ich ihn, wie einen Schatten, dem meine Sehnsucht und meine Wünsche galten, doch nicht stark genug, um mich aufzurütteln. «Durch welches Verhängnis», sagte ich mir, «bin ich so gesetzlos geworden? Die Liebe ist eine unschuldige Leidenschaft; wie kommt es, dass sie sich für mich in eine Quelle von Elend und Verfehlungen verwandelt hat? Wer hinderte mich, ruhig und tugendhaft mit Manon zu leben? Warum habe ich mich nicht mir ihr vermählt, ehe ich mich von ihrer Liebe belohnen ließ? Hätte mein Vater, der mich so innig liebte, nicht eingewilligt, wenn ich ihn mit statthaften Bitten dazu gedrängt hätte? Ach! Mein Vater hätte sie selbst lieb gewonnen, wie eine bezaubernde Tochter, nur allzu würdig, die Frau seines Sohnes zu sein; ich wäre glücklich mit der Liebe Manons, mit der Zuneigung meines Vaters, mit der Wertschätzung ehrbarer Leute, mit den Segnungen meines Vermögens und der Gemütsruhe der Tugend. Unseliger Umschwung! Welch elende Rolle ist da für mich ausersehen? Wie? Ich sollte teile n … Doch bleibt mir eine Wahl, schließlich ist es Manon, die es so vorgesehen hat und die ich verliere, wenn ich nicht einwillige?»
«Monsieur Lescaut!», rief ich und schloss die Augen, wie um die quälenden Überlegungen hinwegzudrängen, «wenn Sie die Absicht hatten, mir einen Dienst zu erweisen, dann haben Sie Dank. Sie hätten einen ehrenwerteren Weg einschlagen können; doch es ist beschlossene Sache, nicht wahr? Beschränken wir uns also auf die Überlegungen, wie uns Ihre Bemühungen von Nutzen sein können und wie Ihr Vorhaben auszuführen ist.»
Lescaut, dem mein Zornesausbruch und das darauffolgende, ausnehmend lange Schweigen, Unbehagen bereitet hatte, war hocherfreut zu sehen, dass ich mich ganz anders verhielt, als er zweifellos befürchtet hatte; denn mutig war er keineswegs, wie sich mir später noch deutlicher zeigen sollte.
«Ja, ja», beeilte er sich mir zu erwidern, «ich habe Ihnen da einen wahrlich guten Dienst erwiesen, und Sie werden sehen, dass wir sogar mehr Nutzen daraus ziehen können, als Sie erwarten.»
Wir überlegten, auf welche Weise wir dem Argwohn zuvorkommen könnten, den wir bei Monsieur de G… M… hinsichtlich unseres geschwisterlichen Verhältnisses erwecken mochten, wenn er sah, dass ich größer und ein wenig älter war, als er sich vielleicht vorgestellt hatte. Uns fiel nichts anderes ein, als dass ich mich in seiner Gegenwart einfältig und provinziell stellen und ihn glauben machen sollte, ich beabsichtige, in den kirchlichen Stand zu treten, und ginge deshalb jeden Tag ins Kolleg. Wir beschlossen zudem, dass ich mich recht ärmlich kleiden sollte, wenn mir das erste Mal die Ehre gewährt würde, ihn zu begrüßen. Drei oder vier Tage später kehrte er in die Stadt zurück; er geleitete Manon selbst zu dem Haus, um dessen Einrichtung sein Verwalter sich gekümmert hatte. Sie ließ Lescaut sogleich von ihrer Rückkehr in Kenntnis setzen; und nachdem dieser mich benachrichtigt hatte, begaben wir uns zu zweit zu ihr. Der alte Galan war bereits fort.
Trotz der Resignation, mit der ich mich ihren Wünschen gefügt hatte, konnte ich bei unserem Wiedersehen ein Gemurr in meinem Herzen nicht unterdrücken. Ich schien ihr traurig und wehmütig. Die Freude, wieder bei ihr zu sein, vermochte den Schmerz angesichts ihrer Untreue nicht gänzlich zu besiegen. Sie dagegen schien überwältigt von der Freude, mich wiederzusehen. Sie warf mir Kälte vor. Ich konnte nicht verhindern, dass mir, von entsprechenden Seufzern begleitet, Worte wie trügerisch und treulos entfuhren. Zuerst spottete sie über meine
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