Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
ich mich mit aller Macht beherrschen musste, um nicht in Geschrei und Tränen auszubrechen. Aus Furcht, meine Verzweiflung könne sich auf Manon übertragen, setzte ich eine gelassene Miene auf. Ich sagte scherzend, ich würde mich im «Hôtel de Transylvanie» schon an irgendeinem Tölpel schadlos halten. Doch anstatt sie mit meiner gespielten Fröhlichkeit vor allzu tiefer Niedergeschlagenheit zu bewahren, schien unser Unglück sie so sehr anzugreifen, dass ihre Traurigkeit eher mir das Herz schwer machte.
«Wir sind verloren!», sagte sie mit Tränen in den Augen. Vergebens zwang ich mich, sie mit meinen Liebkosungen zu trösten; meine eigenen Tränen verrieten meine Verzweiflung und meine Bestürzung. Wir waren tatsächlich so gründlich ruiniert, dass uns nichts geblieben war.
Ich beschloss, auf der Stelle nach Monsieur Lescaut zu schicken. Er gab mir den Rat, noch zur selben Stunde den Polizeileutnant und den Oberpräfekten von Paris aufzusuchen.
Das tat ich denn auch, doch zu meinem größten Unglück; denn abgesehen davon, dass dieses Vorgehen und die Schritte, die ich jene beiden Justizbeauftragten vorzunehmen veranlasste, zu nichts führten, ließ ich Lescaut die Zeit, sich mit seiner Schwester zu beratschlagen und ihr während meiner Abwesenheit eine furchtbare Entscheidung einzureden. Er sprach mit ihr über Monsieur de G… M…, einen alten Lüstling, der großzügig für Vergnügungen zahle, und er führte ihr derart viele Vorteile vor Augen, sollte sie sich in dessen Sold begeben, dass sie, verwirrt wie sie war durch unser Ungemach, auf alles einging, was er ihr aufschwatzte. Dieser ehrenhafte Handel wurde noch vor meiner Rückkehr abgeschlossen und die Ausführung für den nächsten Tag festgesetzt, sobald Lescaut Monsieur de G… M… unterrichtet hätte. Er wartete in der Wohnung auf mich, während Manon sich zum Schlafen in ihre Gemächer zurückgezogen und ihren Lakaien beauftragt hatte, mir zu sagen, sie benötige ein wenig Ruhe und bitte mich, sie diese Nacht allein zu lassen. Lescaut brach auf, nachdem er mir einige Goldpistolen angeboten hatte, die ich dann auch annahm.
Es war beinahe vier Uhr, als ich mich zu Bett begab, und da ich noch lange auf Mittel und Wege sann, mein Vermögen zurückzuerlangen, schlief ich so spät ein, dass ich erst gegen elf Uhr oder die Mittagsstunde aufwachte. Ich erhob mich sogleich, um mich nach Manons Gesundheit zu erkundigen; man sagte mir, sie sei eine Stunde zuvor ausgegangen, und zwar mit ihrem Bruder, der sie in einer Mietkutsche abgeholt habe. Obwohl mir eine solche Fahrt in Gesellschaft Lescauts recht seltsam erschien, zwang ich mich, meinen Argwohn zu unterdrücken. Ich ließ einige Stunden verstreichen, die ich mit Lesen verbrachte. Als ich schließlich meine Unruhe nicht mehr bezähmen konnte, lief ich erregt in unseren Gemächern umher. In Manons Räumlichkeiten bemerkte ich einen versiegelten Brief, der auf ihrem Tisch lag. Er war an mich adressiert, und es war ihre Handschrift. Ich öffnete ihn mit kläglich zitternden Händen; er lautete wie folgt:
Ich schwöre Dir, mein teurer Chevalier, dass Du der Abgott meines Herzens bist und dass es auf dieser Welt niemand anderen gibt, den ich so lieben kann, wie ich Dich liebe; doch siehst Du nicht, mein armer teurer Seelenfreund, dass in der Lage, in die wir geraten sind, die Treue eine törichte Tugend ist? Meinst Du, man könne recht zärtlich sein, wenn es an Brot fehlt? Der Hunger könnte mir eine unselige Verwechslung bescheren: Ich würde irgendwann den letzten Seufzer tun und glauben, es sei ein Liebesseufzer. Ich bete Dich an, dessen sei gewiss; doch überlasse es für eine Weile mir, unsere Vermögensangelegenheiten zu regeln. Pech für den, der in meine Netze geht! Ich arbeite, um meinen Chevalier reich und glücklich zu machen. Mein Bruder wird Dir Nachrichten von Deiner Manon zukommen lassen, auch die, dass sie geweint hat ob der Notwendigkeit, Dich zu verlassen.
Nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, verblieb ich in einer Gemütsverfassung, die zu beschreiben mir schwerfallen wird, denn ich weiß bis heute nicht, welche Empfindungen mich damals umtrieben. Es war einer jener einzigartigen Zustände, dergleichen man noch nie erlebt hat. Man kann sie anderen nicht erklären, denn niemand kann sich eine Vorstellung davon machen; und es fällt schwer, sie für sich selbst zu entwirren, denn da sie die einzigen ihrer Art sind, verbindet sich in der Erinnerung nichts mit ihnen, und man kann
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