Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
gibt und dass man zahlreiche tugendhafte Menschen ein angenehmes und ruhiges Leben führen sieht? Ich werde Ihnen gleichwohl antworten, dass es friedvolle und glückliche Liebesverhältnisse gibt, doch ist da wiederum ein höchst gewichtiger Unterschied zu meinen Gunsten, denn ich möchte hinzufügen, dass die Liebe, wenn sie auch oftmals trügerisch ist, immerhin nichts als Befriedigung und Freuden verspricht, wogegen die Religion verlangt, dass man sich traurigen und fleischabtötenden Übungen unterziehe. Empören Sie sich nicht», setzte ich hinzu, als ich ihn bereit sah, sich in seinem Eifer zu entrüsten. «Der einzige Schluss, den ich hier ziehen will, ist der, dass es keine ungeschicktere Methode gibt, einem Herzen die Liebe zu verleiden, als ihm die Wonnen schlechtzumachen und ihm in der Ausübung der Tugend größeres Glück zu verheißen. Wie wir nun einmal geschaffen sind, ist es gewiss, dass unsere Glückseligkeit in Wonnen besteht; ich bezweifele, dass man da anderer Auffassung sein kann; nun braucht das Herz sich nicht lange zu besinnen, um zu fühlen, dass die Wonnen der Liebe von allen die süßesten sind. Es bemerkt schon bald, dass man es betrügt, wenn man ihm anderwärts köstlichere Freuden verheißt, und dieser Betrug bewirkt, dass es den festesten Versprechungen misstraut. Ihr Prediger, die ihr mich zur Tugend zurückführen wollt, sagt mir nur, dass sie unabdingbar vonnöten ist, doch verhehlt mir dabei nicht, dass sie unerbittlich ist und Schmerzen bereitet. Ihr mögt recht haben, dass die Wonnen der Liebe vergänglich sind, dass sie verboten sind, dass sie ewige Strafen nach sich ziehen und, was mir vielleicht noch mehr Eindruck machen wird, dass, je süßer und köstlicher sie sind, der Lohn des Himmels für ein so gewaltiges Opfer um so großartiger ausfallen wird; doch gesteht ein, dass sie, wie unsere Herzen nun einmal beschaffen sind, hienieden unsere vollkommenste Glückseligkeit darstellen.»
Diese abschließende Wendung meiner Darlegungen gab Tiberge seine gute Laune zurück. Er räumte ein, dass sich in meinen Gedankengängen manch Vernünftiges finde. Der einzige Einwand, den er vorzubringen hatte, war die Frage, warum ich nicht wenigstens meinen eigenen Prinzipien Folge leisten wolle und meine Liebe der Hoffnung auf jenen Lohn opferte, von dem ich mir so großartige Vorstellungen machte.
«Oh lieber Freund», antwortete ich, «hierin erkenne ich mein Elend und meine Schwäche. Ach gewiß, es ist meine Pflicht, meinen Überlegungen gemäß zu handeln. Doch dieses Handeln, steht es denn in meiner Macht? Welcher Hilfe bedürfte ich nicht, um den Zauber Manons zu vergessen!»
«Gott verzeihe mir», versetzte Tiberge, «ich glaube, da haben wir wieder einen unserer Jansenisten 17 .»
«Ich weiß nicht, was ich bin», gab ich zur Antwort, «und ich sehe nicht recht, was man zu sein hat; doch ich empfinde nur allzu stark die Wahrheit dessen, was Sie sagen.»
Dieses Gespräch bewirkte immerhin, dass das Mitempfinden meines Freundes wieder auflebte. Er kam zu der Einsicht, dass eher Schwäche denn böser Wille meine Verfehlungen verursachte. Deshalb war er in seiner Freundschaft bereit, mir im Folgenden die Hilfe zu leisten, ohne die ich unweigerlich an meinem Elend zugrunde gegangen wäre. Gleichwohl gewährte ich ihm keinerlei Einblick in meinen Plan, aus Saint-Lazare zu entfliehen. Ich bat ihn lediglich darum, meinen Brief weiterzugeben. Diesen hatte ich vorbereitet, ehe er gekommen war, und es mangelte mir nicht an Vorwänden, ihm die Dringlichkeit der Nachricht zu begründen. Er überbrachte ihn auch getreulich, und Lescaut erhielt den für ihn bestimmten noch vor Einbruch der Dunkelheit.
Er besuchte mich am folgenden Tag, und zum Glück wurde er unter dem Namen meines Bruders eingelassen. Meine Freude war übergroß, als ich ihn in meine Kammer treten sah. Sorgfältig schloss ich die Tür. «Verlieren wir keine Zeit», sagte ich. «Erzählen Sie mir zunächst, was Sie Neues von Manon wissen, und geben Sie mir dann einen guten Rat, wie ich meine Ketten sprengen kann.»
Er versicherte mir, dass er seine Schwester seit dem Tag, der meiner Verhaftung vorangegangen war, nicht mehr gesehen habe und dass er von ihrem und meinem Geschick nur durch mühselige und sorgfältige Nachforschungen erfahren habe. Er sei zwei- oder dreimal beim Hôpital vorstellig geworden, doch habe man ihm nicht gestattet, mit ihr zu sprechen. «Unseliger G… M…!», rief ich, «das sollst du mir teuer
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