Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
Vom Netzwerk:
sagen, da ich mich entschlossen hatte, am nächsten Tag allein nach Paris zurückzukehren, um nach irgendeinem Heilmittel für dieses ärgerliche Gebrechen zu suchen.
    Beim Nachtmahl kam sie mir blass und abgemagert vor. Im Hôpital hatte ich das nicht bemerkt, denn in der Zelle, wo ich sie gesehen hatte, war es nicht allzu hell gewesen. Ich fragte sie, ob das nicht noch eine Auswirkung des Schreckens sei, den sie empfunden habe, als sie mit ansehen musste, wie ihr Bruder ermordet wurde. Wie sehr dieses Unglück sie auch betroffen habe, ihre Blässe, so versicherte sie mir, rühre daher, dass sie drei Monate lang meine Abwesenheit habe ertragen müssen.
    «So über alle Maßen also liebst du mich?», entgegnete ich.
    «Tausendmal mehr, als ich sagen kann», gab sie zurück. «Du wirst mich also nie wieder verlassen?», setzte ich hinzu.
    «Nein, niemals», antwortete sie, und diese Zusicherung wurde mit so vielen Zärtlichkeiten und Schwüren bekräftigt, dass es mir tatsächlich unmöglich erschien, sie könne diese je vergessen. Ich war immer schon überzeugt gewesen, dass sie aufrichtig war; welchen Grund hätte sie auch gehabt, sich so sehr zu verstellen? Noch mehr jedoch war sie wankelmütig, oder vielmehr wurde sie zu einem Nichts und kannte sich selbst nicht mehr, wenn sie Frauen vor Augen hatte, die im Überfluss lebten, während sie selbst sich in Armut und Bedürftigkeit befand. Dafür sollte ich bald schon einen letzten Beweis bekommen, der all die anderen übertraf und der das befremdlichste Abenteuer nach sich zog, das jemals einem Mann meiner Herkunft und meines Wohlstandes widerfahren ist.
    Da ich um diese ihre Veranlagung wusste, hatte ich große Eile, am nächsten Tag nach Paris zu gelangen. Der Tod ihres Bruders und das Erfordernis, für sie und für mich Wäsche und Kleidung zu besorgen, waren so gute Gründe, dass ich keinen Vorwand brauchte. Ich verließ unsere Herberge, und zwar in der Absicht, wie ich Manon und unserem Gastwirt sagte, eine Mietdroschke zu nehmen, doch das war schiere Prahlerei. Da die Not mich zwang, zu Fuß zu gehen, schritt ich tüchtig aus. Bald schon gelangte ich zum Cours-la-Reine 18 , wo ich haltmachen wollte, bedurfte ich doch eines Moments der Einsamkeit und der Ruhe, um mich zu sammeln und zu bedenken, was ich in Paris tun wolle.
    Ich ließ mich im Gras nieder und versank in einer Flut von Überlegungen und Betrachtungen, die nach und nach auf drei Hauptpunkte hinausliefen. Ich brauchte unmittelbare Hilfe für unzählige unmittelbare Erfordernisse. Ich musste irgendeinen Weg finden, der mir zumindest für die Zukunft Hoffnungen eröffnete, und was von nicht geringerer Bedeutung war, ich musste mich kundig machen und Anstalten treffen, um Manons und meine Sicherheit zu gewährleisten. Nachdem ich Pläne und Maßnahmen zu diesen drei Belangen bis zur Erschöpfung durchdacht hatte, hielt ich es für angebracht, die beiden Letzteren auf später zu verschieben. Unser Zimmer in Chaillot war kein schlechter Unterschlupf, und was künftige Bedürfnisse anging, so glaubte ich, es sei immer noch Zeit, darüber nachzudenken, sobald ich den unmittelbaren Genüge getan hätte.
    Zunächst kam es also darauf an, meinen Geldbeutel zu füllen. Monsieur de T… hatte mir großzügig den seinen angeboten, doch widerstrebte es mir aufs Äußerste, ihn meinerseits wieder darauf anzusprechen. Was für eine Figur würde man machen, wollte man seine Bedürftigkeit einem Fremden offenbaren und ihn bitten, einem etwas von seinem Hab und Gut zu überlassen! Nur eine ehrlose Seele wäre dazu imstande, die in ihrer Niedrigkeit die Würdelosigkeit, die darin liegt, nicht zu empfinden vermag, oder ein demütiger Christ aus übergroßer Hochherzigkeit, die ihn über diese Schande erhebt. Ich war weder ein ehrloser Mann noch ein guter Christ; ich hätte hohen Blutzoll gezahlt um einer solchen Erniedrigung zu entgehen.
    «Tiberge», so sagte ich mir, «der gute Tiberge, wird er mir verweigern, was mir zu geben in seiner Macht liegt? Nein, mein Elend wird ihn rühren, doch wird er mich mit seinen Moralpredigten ersticken. Ich müsste seine Vorhaltungen, seine Ermahnungen, seine Drohungen über mich ergehen lassen; seine Hilfe wird mich so teuer zu stehen kommen, dass ich wiederum eher Blut ließe als mich einer solchen Szene auszusetzen, die nur Verdruss und Reue bereiten wird. Nun gut», sagte ich mir, «so muss ich denn alle Hoffnung fahren lassen, bleibt mir doch kein anderer Weg, und die beiden

Weitere Kostenlose Bücher