Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Warum wurden wir nicht beide mit Anlagen geboren, die unserem Elend angemessen sind? Empfangen haben wir Geist, Geschmack, Empfindungen. Doch ach! Welch traurigen Gebrauch machen wir davon, während so viele erbärmliche Seelen, die unser Los verdient hätten, sich aller Gunst des Schicksals erfreuen!»
Solche Gedanken verfolgten mich schmerzlich; doch waren sie nichts im Vergleich mit denen, die auf die Zukunft gerichtet waren, denn ich verging vor Angst um Manon. Sie war ja schon im Hôpital gewesen, und selbst wenn sie von dort auf dem rechten Weg hinausgelangt wäre, so wusste ich doch, dass derlei Rückfälle äußerst gefährliche Folgen nach sich ziehen konnten. Ich wollte sie in meine Befürchtungen einweihen, doch hatte ich Angst, sie damit zu sehr zu erschrecken. Ich zitterte um sie und wagte dennoch nicht, sie vor der Gefahr zu warnen, und so hielt ich sie seufzend in den Armen, um sie zumindest meiner Liebe zu versichern, war diese doch beinahe die einzige Empfindung, die ich zu äußern wagte. «Manon», sagte ich schließlich, «seien Sie aufrichtig; werden Sie mich immer lieben?»
Sie gab zur Antwort, sie sei höchst unglücklich, dass ich daran zweifeln könne.
«Nun denn», so fuhr ich fort, «ich zweifele nicht daran, und in dieser Gewissheit will ich allen unseren Feinden trotzen. Ich werde meine Familie veranlassen, mich aus dem Châtelet zu befreien; und was soll mir all mein blaues Blut, wenn es mir nicht gelingt, sie dort herauszuholen, sobald ich frei bin.»
Wir kamen beim Gefängnis an. Wir sollten getrennt untergebracht werden. Das war für mich ein weniger harter Schlag als seinerzeit, denn ich hatte damit gerechnet. Ich empfahl Manon der Fürsorge des Schließers, ließ ihn wissen, dass ich ein Mann von einigem Rang war, und versprach ihm eine beträchtliche Belohnung. Ich umarmte meine teure Geliebte, ehe ich von ihr Abschied nahm. Ich beschwor sie, sich nicht allzu sehr zu grämen und nichts zu fürchten, solange ich noch auf der Welt sei. Ich war nicht ganz ohne Geld; einen Teil davon gab ich ihr, und von dem, was blieb, zahlte ich dem Schließer auf einen Monat im Voraus ein beträchtliches Kostgeld für sie und für mich.
Mein Geld tat sehr gute Wirkung. Mir wurde eine ordentlich möblierte Kammer zugewiesen, und man versicherte mir, dass Manon eine ähnliche habe. Ich sann sogleich auf Mittel, um meine baldige Freilassung zu betreiben. Es war offensichtlich, dass in meinem Fall von Verbrechen gar keine Rede sein konnte, und selbst angenommen, unser geplanter Diebstahl würde durch die Aussage Marcels als bewiesen angesehen, so wusste ich doch sehr wohl, dass man für bloße Absichten nicht bestraft wird. Ich beschloss, alsbald an meinen Vater zu schreiben und ihn zu bitten, doch selbst nach Paris zu kommen. Wie ich schon sagte, beschämte mich der Aufenthalt im Châtelet weit weniger als der in Saint-Lazare; im Übrigen hatten Alter und Erfahrung meine Scheu beträchtlich gemindert, wenngleich ich mir allen der väterlichen Autorität geschuldeten Respekt bewahrt hatte. Ich schrieb ihm also, und im Châtelet machte man keine Umstände, meinen Brief auch auf den Weg bringen zu lassen; doch das war eine Mühe, die ich mir hätte ersparen können, wenn ich gewusst hätte, dass mein Vater am folgenden Tag ohnehin in Paris eintreffen sollte.
Er hatte den Brief erhalten, den ich ihm acht Tage zuvor geschrieben hatte. Dieser hatte ihm innige Freude bereitet; doch mit welcher Hoffnung im Hinblick auf meine Besserung ich ihn auch beglückt haben mochte, er war nicht der Meinung, dass er sich ganz und gar auf meine Versprechungen verlassen sollte. Er hatte beschlossen, nach Paris zu kommen, um sich mit eigenen Augen von meiner Läuterung zu überzeugen und sich in seinem eigenen Verhalten mir gegenüber von der Aufrichtigkeit meiner Reue leiten zu lassen. Er traf am Tag nach meiner Gefangennahme in Paris ein.
Sein erster Besuch galt Tiberge, an den seine Antwort zu richten ich ihn gebeten hatte. Doch konnte er von diesem weder meinen Aufenthaltsort noch meine gegenwärtige Lage in Erfahrung bringen; er hörte lediglich von den wichtigsten Ereignissen seit meiner Flucht aus Saint-Sulpice. Tiberge schilderte ihm auf das Vorteilhafteste meine Bereitschaft zur Besserung, die ich bei unserer letzten Zusammenkunft an den Tag gelegt hätte. Er setzte hinzu, dass er glaube, ich hätte mich völlig von Manon gelöst, gleichwohl sei er verwundert, dass ich seit acht Tagen nichts mehr von mir
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