Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Verspätung.« Plötzlich fiel Julia ein, dass sie es doch an diesem Nachmittag bekommen hatte. Martha und Pete hörten, wie sie in ihr Zimmer polterte, die Schranktür aufriss und in ihren Sachen wühlte, um es aus dem Versteck zu holen.
Danach erhielten sie einen Anruf von einem von Julias Lehrern. Zunächst verlieh er seiner Sorge über ihre mangelnde Beteiligung am Unterricht Ausdruck, dann wurde er präziser. »Früher war sie mit den netten, aufgeschlosseneren Kindern befreundet«, sagte Mr. Yelinek. »Aber seit sie sich mit dieser neuen Clique zusammengetan hat …«
»Mit was für einer Clique?«, unterbrach ihn Martha. Der Hörer fühlte sich wie Eis in ihrer Hand an. Anscheinend hatte sich Julia einer Gruppe von Mädchen angeschlossen, die teure Kleidung aus den exklusivsten Geschäften trugen und alle mieden, die nicht wie sie im Soccer-Team waren. Um sich bei ihnen einzuschmeicheln, war Julia dazu übergegangen, ein wenig früher in die Schule zu gehen und sich auf der Toilette umzuziehen, damit sie sich in Pullis präsentieren konnte, wie sie diese Mädchen trugen. Nach der Schule gesellte sie sich zu ihnen, wenn sie sich auf dem Rollschuhplatz zusammenrotteten oder durch die Hyannis Mall schlenderten. Und die ganze Zeit dachte Martha, Julia müsse früher in die Schule wegen des Basketballtrainings und käme später nach Hause, weil sie im Theaterclub war.
Endlose Diskussionen folgten. Eines musste man Julia lassen, sie bekannte sich zu ihren neuen Gewohnheiten, doch ihre Reaktion auf Marthas strikte Forderung, sie solle wieder so anständig und ehrlich werden wie früher, entsetzte sowohl Pete als auch Martha. Mit unbewegter Miene und stumpfem Blick sagte sie: »Ich versuch’s.«
Danach begannen die abendlichen Anrufe. Mirandas Mutter fragte nach, ob Martha wusste, dass sich Julia einesAbends nach dem Zubettgehen aus dem Haus geschlichen und zu Fuß den einstündigen Weg von dem bescheidenen Zuhause in Chatham zu Mirandas Herrenhaus am Sear’s Point zurückgelegt hatte. Die beiden Mädchen hatten, da Mirandas Mutter noch spät Patienten versorgen musste, die Ruhe der Nachbarn mit lauter Musik gestört. Der Besitzer des Kinos rief an, weil er Julia und ihre Freundinnen erwischt hatte, als sie sich durch einen Seiteneingang einschleichen wollten. Der Basketballtrainer hatte herausgefunden, dass Julia an Partys am Hardings Beach teilnahm.
»Ich verstehe«, sagte Pete. »Das wissen wir sehr zu schätzen, Officer.«
Officer! Martha war wie vom Blitz getroffen.
»Wir sind gleich da.«
Er legte auf und sah Martha an. »Ladendiebstahl – betrunken«, sagte er.
Julia gab keinen Ton von sich, als Officer Williamson und der Leiter der Sicherheitsabteilung die Tür zum Hinterzimmer des Geschäfts öffneten. Sie saß vornübergebeugt auf einem Plastikstuhl am Tisch und hatte die Arme um ihre Taille geschlungen. Als Martha in der Tür stehen blieb, schaute Julia sie durch die braunen Locken von unten herauf an – ihre Augen drückten Reue und Wut aus. Es machte Martha krank, ihre hübsche Julia in dem gleißenden Neonlicht zu sehen, besessen von Wünschen, die Martha nicht verstehen konnte. Ihre ehemaligen Schüler hatten Martha gewarnt und erklärt, dass pubertierende Kinder eine echte Prüfung seien, aber sie war davon überzeugt gewesen, dass sie und Julia sich zu nahe standen, um Schwierigkeiten miteinander zu bekommen. Julia war ein ungewöhnlich ernstes Kind, wie Pete feststellte, kurz nachdem sie beim Friedensrichter gewesen und in seinHaus in Chatham gezogen waren. Damals war sie sieben Jahre alt gewesen, und Martha hatte geglaubt, dass Julia in einem stabilen Zuhause und in der Geborgenheit bei zwei Erwachsenen fröhlicher werden würde. Und nun saß ein störrisches Mädchen da, das sich auf Officer Williamsons Aufforderung hin erhob. Sie schwankte, äußerte kein Wort und stank nach Alkohol.
Das Schweigen hielt an, während Martha und Julia dem Officer durch den langen, hell erleuchteten Korridor mit den Spinden der Angestellten folgten. Julias Gang war unsicher, und Martha kämpfte mit sich. Was tat man in solchen Fällen? Waren leibliche Eltern oder Erwachsene, deren Jugend nicht länger als ein, zwei Jahrzehnte zurücklag, geschickter, wenn es galt, Aufsässigkeit und schlechtem Benehmen entgegenzuwirken? Pete hatte gelacht, als Martha das Thema angeschnitten hatte, und erzählt, dass Ann und er in Garys kritischer Zeit nur improvisiert hätten. »Kindererziehung ist etwas ganz anderes
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