Die Geschichte eines schoenen Mädchens
gezeichnet hatte – die Schule mit weit geöffnetem Tor –, an Lynnie weitergab. »Die Bürger des Staates sind über die Pennsylvania Residence für besondere Kinder und Erwachsene hinausgewachsen. Acht Jahrzehnte hat uns diese Einrichtung gute Dienste geleistet, und jetzt wollen wir sie ein letztes Mal ehren.«
Lynnie schaute sich um. Die Bewohner hatten sich zu zweit, zu dritt oder zu viert aufgereiht und waren bereit für die Parade. Das waren die Menschen, mit denen sie im Speisesaal oder bei den Filmvorführungen im Gemeinschaftscottage gesessen oder Kleidungsstücke in der Wäscherei zusammengefaltet hatte. Bewohner, die auf zwei Beinen gehen konnten, Schienen trugen, einen Stock brauchten oder im Rollstuhl saßen. Sie kannte viele von ihnen mit Namen. Alle trugen Sonnenbrillen, Baseballkappen oder neue Hemden, um die Bedeutung dieserFeier zu unterstreichen. Einige hielten selbst gemachte Plakate hoch, andere hatten Tröten oder Tamburine in den Händen; und vor dem Publikum standen die Kamele, Pferde und der Elefant. John-Michael Malone hatte sich neben einem Kameramann postiert und machte Notizen.
Doreen war nirgendwo zu sehen.
Mr. Pennington stieg von der Plattform und stellte sich an die Spitze der Parade. Der Elefant nahm ihm mit dem Rüssel den Hut vom Kopf, und alle lachten. Mr. Pennington schnappte sich den Hut zurück und rief: »Fünf, vier, drei – «, alle fielen mit ein, auch die, die nicht sprechen konnten, » – zwei, eins. Los!« Und sie marschierten, machten Lärm mit ihren Instrumenten, grölten und winkten den Angestellten, ihren Familien und den Reportern zu, als sie vorbeigingen.
Lynnie überblickte die Zuschauer, in der Hoffnung, Doreens Eltern zu erspähen. Sie würde sie nicht erkennen, also war der Versuch unsinnig, dennoch hielt sie nach ihnen Ausschau, während die Parade an den Cottages vorbeizog. Es gab nicht viele Zuschauer, und alle liefen zum Speisesaal, wo der Aufmarsch enden sollte, deshalb war es nicht schwer, jedem Einzelnen ins Gesicht zu schauen. Plötzlich entdeckte sie Clarence. Er stand etwas abseits, trug Jeans und eine Jackett. Er schien dünner geworden zu sein. Aber er war hier – an Lynnies großem Tag. An dem Tag, an dem sie Kate bitten wollte, ihre Tochter zu finden.
Und wenn er hier war, konnte er jeden Tag an irgendeinem anderen Ort auftauchen.
Sie griff sich den Stock, den ihr Nebenmann benutzte, um auf eine Trommel zu schlagen, und hämmerte damit auf den Stab ein, an dem ihr Plakat befestigt war. Auf diese Weise vertrieb sie das Kläffen der Hunde in ihremKopf und das Scheppern des Eimers, der fiel und über den Boden rollte, während sie flehte.
Dann spürte sie jemanden neben sich und drehte sich um. Es war Doreen, die sich in die Reihe einordnete.
Doreen machte kein fröhliches Gesicht, aber sie war auch nicht mehr so mürrisch wie am Morgen. »Ich hab ihn auch gesehen«, rief sie, um den Lärm zu übertönen. »Und ich werde dich nicht allein da draußen lassen, egal, wie ich mich fühle.«
»Dann kommst du mit mir?«, fragte Lynnie.
»Ja, ich komme mit.«
Lynnie nahm ihr Plakat in die andere Hand, so dass Doreen es mit ihr hochhalten konnte. Die Kameras fingen ein, wie sie sich anlächelten.
Zweite Chance
1983
Pete nahm den Anruf entgegen.
Martha fürchtete sich davor, ihm von der anderen Seite ihres kleinen Wohnzimmers aus zuzuhören. Sie hatte sogar Angst gehabt, selbst ans Telefon zu gehen – wie immer, wenn Julia nicht zu Hause war. Martha hoffte jedes Mal, der Anrufer wäre der Basketballtrainer oder eine von Julias Freundinnen. Seit Julias vierzehntem Geburtstag vor ein paar Monaten schaute Pete von seinem Buch auf, wenn das Telefon klingelte, und begegnete Marthas besorgtem Blick, dann stand er auf, um den Hörer abzunehmen.
Eine ganze Weile schwieg Pete, dann sagte er: »Ja, sie wohnt hier.«
Nicht schon wieder. Julia ist ein gutes Kind. Was immer sie angestellt hat, sie ist im Grunde ganz harmlos.
»Ich bin ihr Großvater«, sagte Pete und sah Martha an. »Ihr Stiefgroßvater. Sie lebt bei uns.«
Wieder Schweigen, während Pete zuhörte. Was war jetzt wieder los? Vor einigen Wochen war es ihr Zeugnis. Nachdem Julia jahrelang Einserschülerin gewesen war, waren ihre Leistungen rapide abgerutscht. Sie hatte das Zeugnis vor Martha geheim gehalten und behauptet, die Schule hätte die Zeugnisse noch nicht ausgeteilt, bis Martha sagte: »Ich rufe morgen die Direktorin an und erkundigemich nach dem Grund für diese
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