Die Geschichte eines schoenen Mädchens
dich. Du wirst mehr Stunden bei einer Sprachtherapeutin verbringen. Du wirst lernen, in einem Geschäft einzukaufen und zu leben wie alle anderen.«
Lynnie korrigierte sie. »Ich werde in einer Wohngruppe leben.«
»Nun, das machen andere auch.«
»Nicht wirklich.«
»Okay. Aber es ist dein eigenes Zuhause. Deines und das von Annabelle und Doreen.«
»Doreen geht nicht von hier weg.«
»Sie konnte sich nicht dazu entschließen?«
Kate sagte: »Es gibt einige, die sich immer noch wünschen, dass die Schule nicht geschlossen wird. Ein paar von den Eltern tun das auch.«
Hannah seufzte. »Ich hatte gehofft, dass sie ihre Meinung ändern. Vermutlich ist das ein bisschen zu viel verlangt. Sie hatten bei den Besprechungen starke Argumente.«
Lynnie erinnerte sich, dass Hannah ihr von diesen Besprechungen erzählt hatte. Anfangs hatte man das Ziel, die Schule zu verbessern, deshalb ging es hauptsächlich um Gebäuderenovierungen, Schulungen für das Personal und neue Aktivitäten für die Bewohner. Dann schlugen einige Eltern vor, die Schule ganz zu schließen, andere hingegen meinten, dies wäre der sicherste Platz für ihr Kind. Die Teilnehmer der Konferenz schrien sich an, Anwälte wurden eingeschaltet. Hannah war bei all diesen Konferenzen dabei. »Ich bin auf der Seite derjenigen, die diese Einrichtung schließen wollen«, hatte sie gesagt. »Aber das heißt nicht, dass ich dich dir selbst überlasse. Du bist meine Schwester, und ich sorge mich um dich.« Damals wurde Lynnie klar, dass sie Hannah nie anvertrauen durfte, was mit Buddy und dem Baby geschehen war. Und sie wusste, dass sie eines Tages woanders leben würde.
»Hier ist nichts mehr drin«, verkündete Kate und machte den Aktenschrank zu.
»Dann sind wir fertig«, sagte Hannah.
Lynnie war nicht bereit, das Büro so schnell zu verlassen. Hier hatte sie so viele schöne Stunden verbracht, dass sie sich nicht vorstellen konnte, nie wieder hierherzukommen. Sie betrachtete alles noch einmal ganz genau: das Radio, die Schreibmaschine, die Pflanzen. Und sie sah Buddy vor sich, wie er den Zuckerwürfel zerbrach, um ihr die Konstellationen der Sterne auf einem ihrer Bilder zu zeigen.
Hannah sagte: »Ich weiß, es fällt dir schwer, aber dir wird dein neues Zuhause gefallen.«
Lynnie nickte.
»Kopf hoch, Schwesterchen.«
Lynnie senkte den Blick. Sie erinnerte sich, dass Buddys Füße auf diesem Boden gestanden hatten. Sie hatte ihm ein Bild gemalt – sie beide, wie sie aussehen würden, wenn sie draußen waren, mit schönen Kleidern und guten Schuhen. Sie musste daran denken, wie sie in die Slipper der alten Lady geschlüpft war. Damals hatte sich Lynnie gefühlt wie eine Braut.
»Lynnie?«
Sie blickte auf.
»Hey, sieh mal. Ich habe dir ein kleines Geschenk gebastelt.« Hannah holte etwas aus ihrer Tasche. »Eigentlich wollte ich warten, bis du in deiner neuen Wohnung bist, aber vielleicht sollte ich es dir schon jetzt geben.«
»Warum?«
»Weil es etwas Besonderes ist, was du in diesem Büro aufbewahrt hast, und weil ich weiß, dass du hier deine Zeichnungen gemacht hast. Es ist eine Art Andenken, verstehst du?«
Hannah öffnete die Faust.
Auf ihrer Handfläche lag eine silberne Kette mit einem gläsernen Anhänger. In dem Glas war die rote Feder luftdicht eingeschlossen.
Lynnie streckte die Hand aus und strich mit der Fingerspitze über das Glas.
»Das ist ein altes Monokel«, erklärte Hannah. »Ich habe ein Gegenstück genommen, die Feder darauf gelegt und beide Teile fest verschweißt.«
Kate sagte: »Hannah wollte etwas aus deinem Beutel verwenden. Die Federn waren das Hübscheste.«
»Was … warum hast du dir die rote ausgesucht?«
»Ich hoffe, das ist okay.« Hannah klang besorgt.
»Sehr okay.«
Lynnie nahm die Kette und legte sie sich um. Die Feder lag an der Stelle auf ihrer Brust, an der sie sie zusammen mit Buddy aufgefangen hatte. »Warum die rote Feder?«, fragte sie noch einmal und war froh, dass Caitlin nicht hier war. Sie hätte sofort gewusst, dass in Lynnies Worten starke Erinnerungen mitschwangen.
»Weil rote Federn selten sind«, erwiderte Hannah. »Wenn man eine findet, sollte man sie für immer behalten.«
Als sie vor dem Verwaltungsgebäude ankamen, surrten bereits die Kameras, und der beleibte Mr. Pennington stand im Anzug mit Krawatte und Zirkusdirektor-Hut auf einer Plattform. »Dies ist ein historischer Tag«, sagte er in ein Mikrofon, als Kate ein an einem Stock befestigtes Plakat, das Lynnie letzte Woche
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