Die Geschichte eines schoenen Mädchens
mal vor, was aus Julia geworden wäre, wenn du anders gehandelt hättest.«
»Das kann ich nicht.«
»Und wie wäre dein Leben ohne sie? Oder meines. Wir wären jetzt nicht hier.«
Martha legte den Arm um ihn. Er war stämmiger als Earl, und er war warmherzig, offen und konnte Trost spenden. Lynnie hatte Martha nicht nur ihr Kind anvertraut, sie hatte ihr auch eine zweite Chance gegeben.
Und Martha hatte Lynnie ebenfalls eine zweite Chance ermöglicht, als sie einen früheren Schüler bat, einen Bericht über die Schule zu veröffentlichen.
»Du könntest Julia zunächst nur die nackten Fakten nennen. Und für den Fall, dass sie mehr wissen will und du immer noch nicht darüber sprechen möchtest, hast du deine Holzkiste – da sind genügend Briefe an sie, Fotos, Zeitungsausschnitte und weiß Gott was sonst noch drin. Gib sie ihr, und mit der Zeit wird sie alles verstehen.«
»Ich weiß nicht so recht.«
»Schlaf eine Nacht drüber.«
»Seit vierzehn Jahren mache ich nichts anderes.«
»Dies könnte die letzte Nacht sein, in der du dich mit dieser Frage quälst«, sagte er.
Sie lag neben Pete und beobachtete durch das Fenster, wie Wolken am Mond vorbeizogen. Im letzten Herbst hatte sie Julia das Taschengeld gestrichen und es ihr erst wieder in Aussicht gestellt, wenn sie ihre Noten verbessert hatte. Nach Mirandas Party hatte sie erklärt, dass Julia ab sofort jeden Tag um neun Uhr zu Hause sein müsse. Und trotzdem war das Kind wieder in Schwierigkeiten geraten, noch dazu unter Alkoholeinfluss! Martha nahm sich vor, Julia für die Zeit, in der sie nicht in der Schule sein musste, Hausarrest zu geben. Sollte sie das Mädchen nun auch noch mit der komplizierten Wahrheit belasten, solange sie derart rebellisch und unberechenbar war?
Vielleicht ja. Die Wahrheit würde Julia vor Augen führen, dass es Menschen auf dieser Welt gab, die weit weniger Glück hatten als sie, und dass sie, hätte es das Unwetter in jener Nacht nicht gegeben und wären ihre Eltern nicht in der Lage gewesen, sie zu verstecken, zu einem sehr traurigen Schicksal verdammt gewesen wäre. Andererseits könnte es den Anschein haben, dass Martha so böse wegen des Ladendiebstahls und der Alkoholexzesse war, dass sie Julia den Kopf zurechtsetzen wollte. Julia könnte sie der Lüge bezichtigen oder ihr vorwerfen, sie sei nur auf Lob aus. Und damit hätte sie nicht ganz unrecht; Martha wünschte sehnlichst, Julia würde erkennen, dass sie Lynnies Bitte sehr ernst genommen hatte, und wie Pete Bewunderung für ihren Mut und die Entschlossenheit empfinden. Doch dieser selbstsüchtige Impuls schien Grund genug zu sein, auch weiterhin Stillschweigen zu bewahren.
Nach stundenlangem Grübeln stand Martha auf. Wenn sie schon keinen Schlaf fand, konnte sie genauso gut hinunterins Wohnzimmer gehen und sich mit ihrem Buch ablenken.
Sie schlich aus dem Schlafzimmer und machte die Tür leise zu. Da der Mond hinter Wolken versteckt war, drang kein Licht durch die Gaubenfenster in ihrem Nähzimmer und im Bad, also tastete sie sich mit der Hand durch den finsteren Flur in Richtung Treppe. Pete ermahnte sie oft, Licht zu machen, damit sie nicht hinfiel, und ihr war klar, dass es vernünftiger wäre. Erst im vergangenen Sommer hatte sie sich das Handgelenk gebrochen, nur weil sie ein Ei an einem Schüsselrand aufgeschlagen hatte. Sie und Pete planten sogar, ihr Schlafzimmer ins Erdgeschoss zu verlagern, damit Martha nicht mehr so oft Treppen steigen musste. Doch vorerst wollte sie alles beim Alten belassen und ging das Risiko weiterer Knochenbrüche ein, nur damit sie besser darauf achten konnte, dass Julia die Regeln einhielt.
Martha war überrascht, als sie fühlte, dass Julias Zimmertür nur angelehnt war.
Hatte sie sich schon wieder aus dem Haus gestohlen? Trieb sie sich in der dunklen Nacht herum und stellte alles Mögliche an, nur um ihren Minderwertigkeitskomplex den Freundinnen gegenüber zu bekämpfen und das Gefühl zu haben, dazuzugehören?
Angst schnürte ihr die Kehle zu, als Martha durch den Spalt in das Zimmer spähte.
Julia saß mit Kopfhörern auf den Ohren im Bett und lauschte der Musik. Die Anzeige am Verstärker verbreitete nur ein schwaches bläuliches Licht, aber es genügte, um zu erkennen, dass ihr Hund Reuben mit dem Kopf auf Julias Schoß auf dem Bett lag. Sie streichelte ihn.
Martha durchquerte den Raum und setzte sich auf den Bettrand, Julia machte die Augen auf. Zuerst erschrak sie, dann nahm sie die Kopfhörer ab.
»Es tut
Weitere Kostenlose Bücher