Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Würde sie zu den Feiertagen keineKarten an Lynnie schicken und welche von ihr bekommen, würde sie überhaupt nicht mehr an die Schule denken.
»Gehen Sie nur«, drängte Mr. Eskridge.
»Zeigen Sie uns erst die Münze«, verlangte Mr. Todd.
Sie hob die Hand hoch. »Kopf«, sage sie.
»Das bin ich«, stellte Mr. Todd fest. »Ich nehme Schwarz.«
»Als ob das etwas ändern würde«, sagte Mr. Eskridge.
Kate stand auf. »Ich bleibe nicht lange weg.«
»Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen.« Mr. Todd stellte die schwarzen Figuren auf. »Wir haben alles unter Kontrolle.« Er lächelte. »Das Vorrecht der Privilegierten.«
Tawana sagte: »Er ist in der Lobby.«
Als Kate den Wintergarten verließ, hörte sie Mr. Eskridge sagen: »Ich mag bei dem Münzwurf verloren haben, das heißt jedoch noch lange nicht, dass ich auch das Spiel verliere.«
Als Kate in die Lobby kam, sah sie zunächst keinen Besucher. Erst als sie die Sitzgruppe passierte, entdeckte sie einen großen Mann, der am Empfangspult lehnte. Er schien den Springbrunnen mit den drei Fontänen vor dem Haus zu bewundern. Der Himmel war strahlendblau, die Sonne schien hell, so dass Kate kaum mehr als eine dünne Silhouette mit kahlem Kopf erkannte. Der Mann drückte die Hände vor der Brust zusammen.
Kate warf einen Blick zu Geraldine und Irwin. Geraldine zuckte mit den Schultern.
Kate ging auf den Fremden zu und stellte sich vor ihn.
Ein bärtiges Gesicht. Ihr blieb gerade genug Zeit, die Augen hinter der Brille zu mustern, bevor sich seine Miene ein wenig entspannte.
»Kate?«, fragte er mit rauer, leiser Stimme.
Sie studierte seine Züge und wartete auf eine Erklärung. Sie betrachtete seine Hände. Die Finger waren schlank,und er trug einen Ehering. Der Anzug war nichts Besonderes, aber ebenso gut gepflegt und sauber wie die schlichten Schuhe.
»Kate Catanese, richtig?«, fragte er.
»Wer sind Sie?«
Er biss sich auf die Lippe. »Sie kennen mich als Clarence.«
Sie spürte, wie bitterer Ärger in ihrer Kehle aufstieg, und nahm ihn genauer in Augenschein. Wenn sie sich den Bart und die Brille wegdachte und die Jahre ausradierte, dann sah sie tatsächlich den Wärter vor sich, der Lynnie in der bewussten Nacht in die Schule zurückgebracht hatte. »Warum sind Sie hier?«
»Es muss Ihnen eigenartig vorkommen, dass ich den weiten Weg hierhergekommen bin, dessen bin ich mir bewusst.«
»Die Schule ist geschlossen, Clarence. Mir ist schleierhaft, was Sie von mir wollen – dieser Ort existiert nicht mehr.«
Sie bemerkte, dass Geraldine und Irwin den Wortwechsel verfolgten. Offenbar hatte sie die Stimme erhoben.
»Ich will nichts von Ihnen.«
»Warum sind Sie dann hier? Wir waren nie befreundet. Wir hatten keinerlei Beziehung zueinander. Und ich will auch jetzt nichts mit Ihnen zu tun haben.«
»Ich weiß, mein Besuch erscheint …«
»Seltsam. Und unpassend.«
»Sie haben recht. Aber es gibt gute Gründe für mich, das Gespräch mit Ihnen zu suchen.«
»Wo ist Ihr Kumpel?«
»Smokes? Zuletzt habe ich von ihm gehört, dass er in der Nähe von Harrisburg wohnt.«
»Weiß er, dass Sie hier sind?«
»Ich lebe schon einige Zeit in Baltimore und habe nocheinmal ganz neu angefangen. Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Wir beide auch nicht. Aber Sie tauchen aus heiterem Himmel hier auf …«
»Hätte ich mich im Voraus angekündigt, hätten Sie mich zurückgewiesen.«
»Deshalb haben Sie sich dazu entschlossen, mich an meinem Arbeitsplatz zu überfallen?«
Er warf einen Blick zum Empfang. »Können wir unter vier Augen reden?«
»Wieso sollte ich dem zustimmen?«
Er schaute auf seine Schuhe. »Weil Sie um die Bedeutung einer Beichte wissen.«
Kate starrte ihn an, dann wandte sie sich an Geraldine: »Wir sind gleich draußen vor dem Eingang.«
»Okay«, sagte Kate, als sie sich auf den Rand des Springbrunnens setzte. »Machen Sie’s kurz.«
Er ließ sich neben ihr nieder. Jetzt erkannte sie ihn mühelos wieder, aber wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte sie ihm keinen zweiten Blick gegönnt. Für einen Moment dachte Kate daran, dass einige ihrer Patienten eine Vergangenheit hatten, auf die sie nicht stolz sein konnten – einer der Senioren hatte neben seiner Ehe jahrelang eine Geliebte gehabt, eine Frau hatte ihre Tochter dazu gezwungen, einen wohlhabenden, aber tyrannischen Mann zu heiraten. Mr. Todd hatte sich einmal an einem Kollegen gerächt, indem er gegen dessen Beförderung gestimmt
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