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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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und schmatzte wie Homan kurz zuvor.
    Homan betrachtete den Rest des Riegels, und plötzlich ging ihm ein Licht auf.
    Indianerschopf signalisierte dasselbe Wort, aber mit anderen Gebärden!
    Das Gefühl der Inkorrektheit löste sich in Luft auf. Natürlich! Wenn hörende Menschen verschiedene Sprachen hatten, dann gab es für taube Menschen auch unterschiedliche Gebärden für ein und dieselbe Sache! Indianerschopf hatte sich keinen Spaß mit ihm erlaubt.
    Homan legte den Finger an den Mundwinkel und drehte ihn – das war Indianerschopfs Geste.
    Dann deutete Homan auf einen Baum und machte sein Zeichen für Baum.
    Indianerschopf zeigte die Handfläche neben seinem Gesicht, stützte den Ellbogen auf die andere Hand. Dann drehte er das erhobene Handgelenk und wackelte mitden Fingern; es sah aus, als würden Blätter im Wind wehen.
    Homan zeigte auf das Gras neben dem Innenhof.
    Indianerschopf drehte die Handfläche nach oben, legte sie unter das Kinn, bog die Finger, vollzog Kreisbewegungen und tippte mit den Spitzen an sein Kinn. Wie Grashalme, die in einer Brise das Gesicht berührten.
    Homan konnte sich nicht zurückhalten. Himmel. Haus. Berg – und Indianerschopf antwortete mit seinen Gebärden.
    Die Sonne wanderte über den Himmel, und Homan hatte immer noch nicht genug. Endlich verstand er: Er war nicht allein. Er war kein Niemand.
    Er war jemand, der King und Queen stolz machen, der seinem besten Freund Freudentränen in die Augen treiben konnte. Er war ein Mann, der Indianerschopf dazu brachte, mit den Händen in der Luft zu wedeln, um ihn mit einem Applaus zu preisen, den die ganze Welt sehen konnte.
Die Beichte
1993
    »Entschuldigung – Kate?«
    Kate hatte gerade eine Münze geworfen, aufgefangen und auf ihren Handrücken gelegt. Sie hielt das Ergebnis mit der anderen Hand zu. Mr. Todd und Mr. Eskridge saßen im Wintergarten vor dem Schachbrett, das Kate für sie geholt hatte; sie bestanden immer auf den Münzwurf, der entschied, wer mit Weiß, wer mit Schwarz spielte.
    Kate sah auf. Tawana, eine jüngere Assistentin in diesem Westbrook-Seniorenheim stand vor ihr.
    »Ja?«
    »Tut mir leid, wenn ich störe, aber da ist jemand, der Sie sprechen will.«
    Mr. Todd und Mr. Eskridge drehten sich Tawana zu.
    »Mann oder Frau?«, wollte Mr. Todd wissen. Er trug ein Sportsakko und hatte einen texanischen Akzent.
    »Mann«, antwortete Tawana. »Genau genommen …«
    »Das muss Scott sein«, fiel ihr Mr. Eskridge ins Wort. Er lief immer noch in seinem Laborkittel herum, obwohl er schon seit Jahren im Ruhestand war.
    »Scott schaut hier nie vorbei«, widersprach Mr. Todd. »Vielleicht macht ihr Sohn einen Überraschungsbesuch.«
    »Nein, es ist auch nicht ihr Sohn«, sagte Tawana. »Dieser Mann trägt einen ordentlichen Anzug. Er hat sich als Kenvorgestellt und sagt, er sei vor langer Zeit Ihr Kollege gewesen. Zumindest hat mir das Geraldine so gesagt.«
    Geraldine saß am Empfang, genau wie Irwin, der Sicherheitsmann, dessen Aufgabe hauptsächlich darin bestand, Enkelkinder zu begrüßen, wenn sie zu Besuch kamen.
    »Geraldine hat mich gebeten, Ihnen Bescheid zu sagen.«
    » Ken? Ich kenne keinen Ken. Wie sieht er aus?«
    »Wie eine Bohnenstange. Er ist schon älter.«
    »Hat Geraldine ihm nicht gesagt, dass ich arbeite?«
    »Er will warten.«
    Kate betrachtete das Schachbrett. Sie musste noch die Figuren aufstellen. Ihre Hand verdeckte immer noch die Münze.
    In den zehn Jahren, die Kate hier arbeitete, hatte sie noch nie jemand hier aufgesucht. Früher hatte sie das der Tatsache zugeschrieben, dass sie Scotts Kollegen von der Indianapolis Tech nicht kannte, doch inzwischen hatte sie sich eingelebt, aber ihre Freunde und Bekannten würden nie herkommen, wenn sie etwas mit ihr zu besprechen hatten. Kate arbeitete mit demenzkranken Patienten. Jeden Moment könnte sie Mr. Quill trösten müssen, weil ihm sein Sohn widersprochen und klargemacht hatte, dass Mrs. Quill nicht beim Einkaufen, sondern seit zweiundzwanzig Jahren tot war. Oder sie musste Miss Orlecki helfen, ihre Nylonstrümpfe und ein feines Kleid anzuziehen, weil sie sich immer noch gern hübsch machte.
    Das hieß nicht, dass Besucher unerwünscht waren – hier gab es keine abgeschlossenen Türen wie in der Schule. Und hier wurden die Bewohner mit Respekt behandelt. Am Anfang hatte Kate ständig Vergleiche gezogen, aber irgendwann hatte sie das hinter sich gelassen. Die Schule existierte nicht mehr, und sie war neun Jahre nicht mehr in Pennsylvania gewesen.

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