Die Geschichte eines schoenen Mädchens
den Motor.
Kate, die hinten Platz genommen hatte, konnte nur Lynnies Profil sehen. Sie strahlte über das ganze Gesicht, zweifellos weil es ihr gelungen war, diese Reise zu arrangieren.
»Mir würde es nichts ausmachen, wenn es das ganze Wochenende regnet«, sagte Kate. »Es ist einfach schön, mit euch beiden hier zu sein.«
Die ersten Tropfen fielen, als sie vor dem Souvenirshop in der Ocean Avenue anhielten, wo ihr Fremdenführer sie erwartete. Ein Mann um die sechzig mit tiefen Falten und strahlend blauen Augen. Er stand unter der Markise, trug ein Regencape mit Kapuze und winkte zur Begrüßung, dann kam er zu Hannahs Fenster, stellte sich als Tom vor und sagte, dass er nun das Steuer übernehmen würde. Hannah wechselte auf den Rücksitz, und er stieg ein.
»Möglicherweise müssen wir uns mit der Kurzversion der normalen Tour begnügen«, sagte er. »Gewöhnlichkönnen wir in die historischen Gebäude hineingehen, aber die Leute hier bereiten sich auf den Sturm vor, und es könnte sein, dass uns der Zugang versperrt ist und wir auf den Parkplätzen bleiben müssen.«
»Wirklich?«, fragte Lynnie.
Er zuckte mit den Schultern. »Normalerweise bekomme ich an solchen Tagen Bescheid. Wir müssen abwarten.«
Er fuhr auf die Ocean Avenue.
»Daran erinnere ich mich«, sagte Hannah, als sie an einem Hamburger-Restaurant mit einer riesigen Meerjungfrau aus Metall über dem Eingang vorbeikamen.
»Das ist das Ackerman’s. Dieses Restaurant gibt es seit 1925.«
»Hier haben wir gegessen«, erzählte Hannah. »Du musst dich an die Meerjungfrau erinnern, Lynnie – du hast sie gezeichnet.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Und sehen Sie das da drüben?« Tom deutete auf eine grüne Insel mit Karussell in der Mitte.
»O Lynnie!«, rief Hannah. »Sieh nur!«
Tom fuhr fort: »Früher hatten wir einen tollen Vergnügungspark am anderen Ende der Stadt. Er war eine der größten Attraktionen in South Jersey und so berühmt wie Lucy, der Zinnelefant in Margate, oder die hölzerne Promenade in Atlantic City. Und besonders beliebt war dieses Karussell. Wir hatten Glück, denn als 1955 im Park ein Feuer ausbrach, konnte das Karussell gerettet werden, und vor ein paar Jahren erhielten wir die Genehmigung, es in unserem Stadtzentrum aufzustellen. Es läuft sogar noch.«
Tom umrundete die Grünanlage. Das Karussell schwankte im Wind, und der Zugang war mit einer Kette abgesperrt. »Nun, ich schätze, für heute ist der Fahrbetriebeingestellt. Aber wenigstens können wir es uns ansehen.« Die grellbunten Pferde, Zebras, Tiger und Löwen mit reich verzierten Sätteln und fantasievollem Kopfschmuck standen verlassen auf ihren Pfählen.
»Die Pferde sind am schönsten«, stellte Lynnie fest.
»Ja«, gab Hannah ihr recht. »Sie sehen aus wie das eine, das mir Mommy und Daddy in einem kleinen Laden gekauft haben.«
»Das hast du mir geschenkt.«
»Redet ihr von dem Pferd, das du in deinem Beutel aufbewahrst, Lynnie?«, fragte Kate. »Von dem blauen Pferd mit der grünen Mähne?«
Lynnie drehte sich zu ihr und nickte.
Tom zeigte ihnen die Stadt. Poseidon war eine der ältesten Küstenstädte, deren Bürger im Revolutionskrieg eine Invasion der Briten zurückgeschlagen hatten. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurde sie zu einer für den Handel bedeutenden Hafenstadt. Vermögende Schiffseigner ließen sich hier nieder und bauten Häuser für sich und ihre Familien. Die Wirtschaft blühte noch mehr, nachdem ein Glaswerk gegründet worden war. Zur Jahrhundertwende entdeckten sowohl Arbeiter aus South Jersey als auch zahlungskräftige Geschäftsleute die Stadt als Urlaubsort für die Sommerfrische. Das vornehmste Strandhaus aus dieser Zeit war noch erhalten. »Und das ist das Poseidon Inn«, sagte Tom. »Woodrow Wilson war einmal hier. Es heißt, dass Thomas Edison eine Nacht im Poseidon Inn verbracht hat, und als er morgens aufwachte, wusste er plötzlich, wie er die Glühbirne herstellen konnte. Und jetzt muss ich einen kleinen Haken fahren …« Er bog nach rechts in eine schmale, kurze Straße ab, dann nach links auf einen breiten, dreispurigen Boulevard. »Jetzt sind wir auf der berühmten Mansion Row.«
Prächtige, bestens gepflegte Häuser säumten die Straße.Tom fuhr langsam und zeigte ihnen, wer wo gelebt hatte. Kate fragte sich, ob Lynnie etwas mit den historischen Informationen anfangen konnte, aber sie schaute ebenso fasziniert aus dem Wagenfenster wie Hannah und sie selbst. Kurze Zeit später erfuhr Kate,
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