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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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gesehen hatte. Als sie näher trat, sah er ihre Kleidung: ein kurzer Pelzmantel, ein rot-weiß getupftes Kleid mit roter Schärpe und weiße Stiefel bis zum Knie. Der Mann umkreiste ihn vorsichtig, als wäre er ein Stinktier, das Gestank verspritzen könnte, und als er ins Licht kam, bemerkte Homan, dass er weißen Schaum im Gesicht hatte – Rasierschaum. Was treibt der Witzbold hier im Freien mit Rasierschaum im Gesicht? Sind die Leute in der Welt da draußen verrückt geworden? Der Mann in Lederjacke und Jeans war feist wie ein Schwein, das auf den Markt geführt wird.
    Die Frau bückte sich. Sie war hübsch, konnte dem schönen Mädchen, das mittlerweile bestimmt wieder im Knast war und auf ihn wartete, aber nicht das Wasser reichen. Homan richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Die Frau sah zu dem Mann mit dem Rasierschaum auf und bewegte den Mund. Homan hatte kaum von Mamas oder Blues Lippen lesen können, bei anderen war es ganz unmöglich. Sein Bein schmerzte, und er hättegern nachgesehen, welche Verletzung er abbekommen hatte. Gerade als er Anstalten dazu machte, streckte die Frau – die Getupfte – die Hände aus, um Homans Bein zu berühren, was den Mann – Puddinggesicht – dazu veranlasste, die Augen zusammenzukneifen und sie zurechtzuweisen. Die Getupfte drehte sich zu ihm, und er nickte, als wollte er das Gegenteil von einem Nicken ausdrücken. Mit jeder Kopfbewegung schrumpfte die Getupfte ein wenig mehr in sich zusammen.
    Dann ging Pudding weg und wedelte mit dem Arm, als ob er eine Tür zuschieben müsste. Die Getupfte hatte die Hand immer noch an Homans schmerzendem Bein, und er erkannte, dass sie jünger war als das schöne Mädchen. Ihr Gesicht drückte aus, dass sie Angst und Mitleid mit ihm hatte, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen.
    Er schüttelte heftig den Kopf und deutete auf seine Ohren.
    Alle erstarrten. Sekunden verstrichen.
    Dann stürmte Pudding mit Schrei-Miene herbei, und die Getupfte verzog das Gesicht, als wollte sie auf Homan einreden wie auf ein Baby. Diese Gesichtsausdrücke nahmen die meisten Hörenden an, wenn sie merkten, dass Homan taub war. Er hoffte nur, sie würden ihre Versuche schnell aufgeben. Lass nicht zu, dass sie dir das Gefühl geben, ein wertloser Wurm zu sein, nur weil du nicht hören kannst , hatten ihm die McClintocks seinerzeit übermittelt. Sie sprechen mit dir, als wären sie Kräheneltern, die mit einer Babykrähe reden. In Wirklichkeit reden diese Krähen jedoch mit einem Löwen.
    Die Getupfte und Pudding plapperten weiter, jetzt miteinander, und Homan setzte sich ganz auf. Zur Linken stand das Lagerhaus, vor ihm erstreckte sich ein Parkplatz, und dahinter sah er verwitterte Picknicktische. Auf einem standen Sachen – Dosen, vielleicht Suppendosen undRasierschaum. An der Seite türmten sich ausrangierte Waschmaschinen. Auf dem Platz parkte nur ein verrostetes Auto, auf dessen Rücksitz Kleiderhaufen lagen.
    Er erkannte all diese Gegenstände, obschon er nie etwas mit Lagerhäusern, Waschmaschinen oder Schrott zu tun gehabt hatte. Er war inmitten von Baumwollfeldern aufgewachsen mit Zinkbadewannen und Holzöfen. In seiner Kindheit war er mit Blue in die Wälder gegangen, um zu lernen, wie man Wild jagte, oder er hatte sich bis zu den asphaltierten Straßen der Fork vorgewagt, wo die Weißen ihre Häuser hatten. Im letzten Haus für Farbige vor der Fork lebten die McClintock-Jungs und führten eine Autowerkstatt. Wie er selbst konnten sie nichts hören. Er lungerte mit ihnen an der Werkstatt herum und beobachtete ihre Gebärdensprache. Er und Blue brachten ihnen Fische, die sie im Creek gefangen hatten.
    Blue hatte ihm einmal erklärt, dass das Wasser vom Creek in den Himmel aufstieg und als Regen wieder auf die Erde kam. Viel später, als er sah, wie das schöne Mädchen einen hohen Turm zeichnete, der das Meer überblickte, war er erstaunt über das unendliche Wasser, das mit den vielen Schaumkronen und Wellen ganz anders aussah als der Creek. Das schöne Mädchen bemerkte seine Verwunderung und zeichnete ein anderes Bild von einer weinenden Person. Sie zeigte auf die Tränen, dann wieder auf das Meer im anderen Bild. Er faltete das erste Bild und steckte es in die Tasche, um es später in seiner Hütte unter dem Heu zu verstecken.
    Die Getupfte und Pudding diskutierten immer noch, und Homan war sich bewusst, dass es Zeit war, sich davonzumachen. Der Fluss strömte nach Süden, so viel erkannte er. Er musste bloß am Ufer bis

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