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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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vergraben hatte. Der Schlaf hatte ihn übermannt, bevor der Wagen losfuhr.
    Er träumte vom Laufen.
    Er war noch klein und rannte über den Hof zu dem Baum mit der Schaukel. Sein Onkel Blue holte ihn ein, und sie sprangen gemeinsam auf die Schaukel. Homan kitzelte Blue, und lachend schwangen sie hoch in den Himmel. Blue war elf Jahre älter als er und bat ihn, ihn als großen Bruder anzusehen. Und Blue war der beste große Bruder, den ein Junge haben konnte.
    Der nächste Traum war traurig. Er war sechs und sah Blue nach, als der aus der Hütte stürmte. Es regnete. Blue musste bis zur Straße gerannt sein, über die die Frauen nach der Putzarbeit in den Häusern der Weißen nach Hause gingen, denn er kam mit Mama zurück. Sie ging neben Homan in die Knie und sah ihn mit angstvollen Augen an. Dann lag ein feuchter Waschlappen auf Homans Kopf – er saß auf Blues Maulesel Ethel, und sie rannten alle. Sein Kopf tat höllisch weh. Mama lief voraus durch den Eingang des Krankenhauses, kam wieder herausund deutete in die Richtung der nächsten Stadt; nur in diesem Krankenhaus wurden Farbige aufgenommen. Als der Maulesel dort ankam, hatte der Regen aufgehört, und der Mond stand hoch am Himmel. Homan konnte die Stimme seiner Mutter nicht hören. Er zog Blue zu sich und fragte: »Was ist los? Ich höre nichts!« Nicht einmal sich selbst, das wurde ihm schlagartig klar.
    Danach wurde er oft ausgelacht, und das machte ihn so wütend, dass er den Baum im Hof mit Tritten traktierte. Doch eines Tages zog Blue ihn mit sich und brachte ihn zu den McClintocks. Er hatte ihnen nie viel Beachtung geschenkt, aber an diesem Tag hatte er erfahren, dass die Jungs taub waren und sich mit Gebärden verständigten, die ihnen ihr Daddy beigebracht hatte, bevor sie in die Nachbarschaft gezogen waren. Ab da ritten Blue und Homan Tag für Tag auf dem Maulesel zu den McClintocks, und Homan lernte eine Sprache, die man mit Händen und Fingern ausdrückte. Stirnrunzeln, Schulterzucken, Winken, Salutieren, das Hochziehen der Brauen, das Zusammenkneifen der Augen, das Schürzen der Lippen und die Kopfhaltung – das alles half ihm, sich noch verständlicher zu machen. Seine Wut verrauchte allmählich, und ein Glücksgefühl beseelte ihn.
    Als die Erweckungsgemeinschaft in die Stadt kam, strebten sie alle zur Kirche. Sie kletterten auf einen Pecanobaum vor den Fenstern, drückten die Handflächen an die Scheiben und spähten ins Gotteshaus. Homan spürte die Vibration der Stimmen – damals dachte er, dass er, da er Augen hatte, die hören konnten, und Hände, die sprachen, sein Gehör nicht brauchte. Fattie McClintock seufzte und fragte ihn mit Handzeichen: Was glaubst du, was Gott ist? Homan fragte zurück: Er mag die Jahreszeiten, richtig? Du bittest die Jahreszeiten, eine Dürreperiode zu beenden oder die Kälte zu brechen, und früher oder später wirddeinWunsch erfüllt – meinst du das? Fattie erwiderte : Ja. Das ist Gott.
    Dann kam der bewusste Nachmittag.
    Homan war fünfzehn, Blue sechsundzwanzig. Sie waren bei den McClintocks und standen um den Wagen herum, an dem die Jungs gerade arbeiteten. Ethel kaute an dem Heu, das in einem Futtersack um ihren Hals hing. Die Jungs aßen Molassekuchen. Wayne Sullivan fuhr in seinem großen neuen Wagen vorbei – dann kam er zurück, diesmal langsamer. Sein Daddy war Mr. Landis, der weiße Mann, dem das Schuhgeschäft gehörte. Homans Mama putzte das Haus, das er mit seiner Frau bewohnte. Waynes Mutter, Velma Sullivan, war Mr. Landis’ Nebenfrau; ihre Haut war so hell, dass niemand sah, dass sie eigentlich eine Farbige war. Mr. Landis hatte ihr und Wayne ein eigenes Haus am Rand der Fork zur Verfügung gestellt. Wayne fuhr zum dritten Mal an der McClintock-Werkstatt vorbei. Seine Freunde waren bei ihm, und er blendete die Scheinwerfer auf und ab, bis er die Aufmerksamkeit der McClintocks auf sich gezogen hatte. Dann riss er die Augen weit auf und streckte ihnen die Zunge heraus. Seine Freunde kratzten sich unter den Armen und öffneten und schlossen die Münder wie Tiere.
    Ein schönes Benehmen für einen reichen Jungen , gestikulierte der größte McClintock.
    Fattie erklärte: Er ist sauer, weil sein Mädchen gestern ihren Wagen zu uns gebracht hat.
    Dann ist er besonders böse auf ihn, fügte der McClintock mit den vorstehenden Zähnen hinzu und zeigte auf Blue. Er hat sie auf dem Maulesel nach Hause gebracht.
    Homan fühlte die alte Wut in sich aufsteigen. Er nahm sich vor, Wayne zu ignorieren,

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