Die Geschichte eines schoenen Mädchens
1968
Am Weihnachtstag brachten sie Lynnie endlich zurück.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Nach allem, was sie wusste – »Die Angeklagte Nein-Nein muss ihre Schuld sühnen«, hatte ihr Clarence mit falschem Mitgefühl erklärt –, sollte ihre Bestrafung für immer sein. Fünf lange Wochen hatte sie in Q-1 gelebt und gearbeitet. Q-1 war das Quartier für Insassen, die nicht allein zurechtkamen oder als besonders widerspenstig angesehen wurden. Einige wurden sogar auch tagsüber in Gitterbetten gehalten, und ein Arbeitsmädchen wie Lynnie musste diese Betten in den Aufenthaltsraum mit dem Fernseher schieben. Clarence und sein Kumpel Smokes kamen am Morgen nach Lynnies Festnahme und begleiteten sie zu Q-1. Sie waren auch diejenigen gewesen, die ihr Fesseln angelegt hatten, während sie noch schlief – »damit du nicht wieder weglaufen kannst«, meinte Smokes, während er die Riemen aufschnallte. Er hatte einen Zahnstocher im Mund und kaute darauf. Lynnie wusste, dass die Fesseln dazu da waren, sie an Ort und Stelle zu halten, dennoch wand sie sich heulend und knirschte mit den Zähnen.
Die Demütigungen beschränkten sich nicht auf die Lederriemen. Nachdem Clarence und Smokes sie in das Q-1-Cottage geführt hatten, verkündete Smokes: »Du wirst ab jetzt in einem Gitterbett schlafen, weil du eingroßes Baby bist.« Dann wechselte er einen Blick mit Clarence und brach in Gelächter aus. Danach zeigte ihr Janice ihr vergittertes Bett, und Bull schloss ihre spärlichen Habseligkeiten weg. Sie drückten ihr eine Art Schrubber in die Hand – den Blocker, wie sie es nannten, mit dem schweren Klotz am Ende, um den man ein Tuch wickeln musste, wenn man die Böden bohnern sollte, die bereits gebohnert waren. Am liebsten hätte sie ihnen das Ding zurückgeschleudert. Aber Lynnie zwang sich zur Fügsamkeit und achtete darauf, immer so zu stehen, dass sie zu einem Fenster aufschauen konnte. Sie dachte: Buddy ist unter demselben Himmel, und er wird zurückkommen. Sie stellte sich vor, wie er hinter der Scheibe auftauchte und ihr mit seinen Händen sagte, dass sie noch einmal durchbrennen würden. Sie hatte gesehen, wie Männer über die unterirdischen Gänge zur Mauer liefen, und in Autos stiegen, um zu der alten Dame zurückzufahren … Würde die Lady ihnen zeigen, wo sie das Baby versteckt hatte?
In den ersten Tagen, als die Milch in Lynnies Brüsten versiegte und ihre Arme vor Sehnsucht schmerzten, das Baby zu halten, überwog die Freude in ihren Fantasien den Zorn über die Bestrafung. Doch am Ende der ersten Woche begann sie, sich Sorgen zu machen. War Buddy etwas passiert? Was, wenn er zurückkehrte und nicht wusste, dass sie in Q-1 festgehalten wurde? Oder wenn er sich bei der Suche nach ihr in den unterirdischen Gängen verirrte? Oder wenn ihn jemand, der annahm, er wüsste über die Vorgänge in der Kammer Bescheid, aufgespürt hatte?
Nur gut, dass die Bewohner von Q-1 so lustig waren. Gina brüllte vor Lachen, wenn die Benson & Hedges-Werbung im Fernsehen lief – den Rauchern passierte immer etwas, wobei ihre Zigaretten in zwei Hälften zerbrachen. Tammy wiegte sich neben dem Wäscheschrank vor und zurück, und wenn Bull ihn aufschloss, schnapptesie sich ein Handtuch und lief davon. Aus dem Handtuch machte sie ein Spielzeug, mit dem sie sich stundenlang amüsieren konnte. Marion äffte das Pflegepersonal und vor allem Onkel Luke nach, manchmal direkt hinter dem Rücken des Betreffenden. Doch Lynnie war entsetzt, wie sehr die Pfleger die Bewohner von Q-1 vernachlässigten. Sie beachteten es gar nicht, wenn Tammy mit dem Kopf gegen die Wand schlug, bis ihre Stirn blutete, oder ließen Gina den ganzen Tag in ihren Exkrementen liegen. Und Lynnie hasste es, dass sie wegen ihrer Arbeit, die der des Personals ähnelte, auch hin und wieder zur Zielscheibe für Marions Spott wurde.
Das Beste an ihrem Aufenthalt in Q-1 war, dass sie nicht mehr in Clarence’ und Smokes’ Nähe kam. Fünf Wochen lang, in denen sie aus den Fenstern spähte und auf Buddys Rückkehr vorbereitet war, beobachtete sie, wie Clarence und Smokes – die eigentlich für die zweite Schicht eingeteilt, aber, da sie auf dem Gelände wohnten, ständig präsent waren – Tag und Nacht um die Cottages der Jungs herumschlichen. Die Quartiere der Jungs waren nicht weit weg von A-3, doch Q-1 befand sich am Fuß des Hügels.
Janice und Bull hatten tagsüber Dienst, Ruthanne in den Nächten. Alle drei waren groß und kräftig wie die meisten Pfleger in
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