Die Geschichte eines schoenen Mädchens
den Häusern mit den schwierigeren Patienten. Allerdings waren sie nicht gemein zu ihren Schützlingen, dafür sträflich nachlässig.
Wenn Lynnie von Janice und Bull geweckt wurde, brauchte sie nicht auf der Hut zu sein, trotzdem begrüßte sie den neuen Tag nie mit Freuden. Das war in A-3 ganz anders. Dort hörte sie, noch ehe sie die Augen aufschlug, wie Doreen drauflosplapperte und ihre Fantasieunterwäsche beschrieb, die sie gleich anziehen würden. Während sie ihre schäbige Anstaltskleidung anlegten, tatensie so, als wären sie Filmstars. Und sie sahen Kate, die mit ihrem bunt bestickten Kittel und dem aufgetürmten roten Haar hereinkam, um die Morgenschicht zu übernehmen.
Aber die Traurigkeit beim Aufwachen war gerade gut, wie sich Lynnie jeden Morgen ins Gedächtnis rief. Sie würde weglaufen, und da das die schlimmste Regelverletzung kurz vor einer Gewalttat war, musste ihr das Wenige, was sie glücklich machte, versagt bleiben: Doreen, die Wäscherei, die Besuche in Kates Büro. Wann immer sie an all das dachte, biss sie die Zähne zusammen. Insgeheim war sie froh, dass niemand wusste, welch viel größeren Verlust sie noch erlitten hatte. Allerdings hätten sie es ahnen können, wenn ihnen aufgefallen wäre, dass Lynnies Bewegungen mit jedem Tag schwerfälliger wurden, und der Trotz, der sie zur Flucht über die Mauer veranlasst hatte, purer Resignation wich.
Aber nun, am Weihnachtsmorgen, entdeckte Lynnie, während sie träger denn je den Boden im Schlafsaal blank wienerte, etwas Rotes im Flur.
Sie hielt inne. Konnte das Kates roter Haarschopf sein? Kate war in all den Wochen nur einmal hier gewesen. Auch wenn sie Oberschwester war, musste sie sich doch an die Regeln halten. Anders als Clarence und Smokes, die sogar mit ihren Hunden überall herumstreunen durften – schließlich war Smokes Onkel Lukes Bruder –, war Kate auf die ihr zugeteilten Cottages beschränkt. Andererseits brach Kate oft die Regeln.
Und es war Kate! Sie stand auf der Schwelle zum Schlafsaal!
Lynnie rührte sich nicht, als Kate eine volle Minute dastand und sie mit gequältem Blick ansah. Lynnie hätte um ein Haar Buddys Geste für Komm her gemacht. Sie hörte selbst, wie sie leise ächzte.
Endlich klärte sich Kates Miene, und sie sah aus wie immer. Sie räusperte sich und sagte mit rauerer Stimme als sonst: »Hi, Süße. Ich hole dich zurück in die A-3.«
Lynnie ließ den Schrubber fallen und rannte quietschend und mit ausgebreiteten Armen an der Reihe der Gitterbetten entlang. Kate hatte auch die Arme ausgestreckt, und Lynnie warf sich ihr an den Hals.
Wie wunderbar! Kate roch noch nach Kate – nach Zigaretten, Gardenienseife und ihrem natürlichen Duft –, und ihre Wangen waren weich, die Brüste groß und tröstlich. Lynnie wusste, dass sie selbst stank wie alles in diesem Cottage, aber Kate hielt sie trotzdem fest.
Wenn Kate zurückkommen kann , dachte Lynnie, dann kann es Buddy auch .
Sie lösten sich voneinander. Kates kleineres Selbst spähte aus ihren Augen, und Lynnie registrierte, dass es kleiner denn je war. Trotzdem lächelte sie, wenn ihr Lächeln auch von Traurigkeit gezeichnet war. Lynnie spürte, dass sie auf dieselbe Art lächelte.
»Komm, wir holen deine Sachen«, schlug Kate vor und deutete auf die Schachtel, die sie neben die Tür gestellt hatte. »Ich soll dich noch vor dem Mittagessen zurückbringen.«
Lynnie konnte gehen! Gleich sofort! Sie ließ den Kopf kreisen – nicht, um dem Hier und Jetzt zu entfliehen, sondern um eine Erinnerung an Buddy zu finden, damit sie diesen Augenblick mit ihm teilen konnte. Sie brauchte nur einen einzigen Kreis zu vollziehen und sah ihn vor sich, wie er sie durch ein Maisfeld führte und lachte, weil niemand sie zwischen den hohen Halmen sehen konnte. Dann drehte er sich zu ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie. Sie gab sich dem Kuss hin, und die ganze Welt um sie herum versank ins Nichts. Der Kuss dauerte ewig, und als sich ihre Lippen trennten, schwebte eine roteFeder vom Himmel herab und landete zwischen ihnen. Lynnie sah Buddy an und er sie, da geschah etwas mit ihr, was sie sich nie hätte vorstellen können.
Lynnie folgte Kate durch den Gang zwischen den Gitterbetten zum Schrank, doch obschon ihr leichter ums Herz war als in den ganzen letzten Wochen, waren ihre Schritte nicht beschwingt. Als sie zu ihrem Bett kamen, sagte Kate: »Willst du mir nur beim Packen zusehen?«
Lynnie nickte.
Kate drückte das seitliche Gitter herunter, so dass sich
Weitere Kostenlose Bücher