Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Kate.
Doch dann erinnerte sie sich an ihre Begegnung mitTonette. Eines Tages, als Lynnie den Gemeinschaftsraum verließ, um zum Essen zu gehen, versetzte ihr ein anderes Mädchen einen Stoß. Weil ihre Nase blutete, wurde sie in die Krankenstation gebracht, wo sie auf Tonette traf. Nachdem die Blutung bei Lynnie gestillt worden war, kam Tonette zu ihr und flüsterte »Siehst du die Schwester?« Sie deutete mit dem Finger. »Sie ist gerade erst vom Krankenhaus in Scranton hergekommen. Sie ist nicht krank in der Seele wie Clarence und die anderen. Ich werde ihr erzählen, was ich gesehen habe.« Damit würde sie gegen ihren eigenen Ratschlag verstoßen.
»Warum?«, fragte Lynnie – ein Wort, das seither längst für sie verloren war.
Tonette antwortete: »Weil hier Dinge passieren, die nicht sein dürfen.« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Ich weiß, dass das gefährlich für mich werden kann, aber es geht ins Persönliche.«
Lynnie hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Heute Abend nach dem Essen«, fuhr Tonette fort, »sage ich ihnen, dass ich noch mal hierher zur Arbeit muss. Dann setze ich mich mit der Schwester zusammen und erzähle ihr alles.«
Lynnie warnte: »Sei vorsichtig.«
An diesem Abend schlief Lynnie mit dem Gedanken an Tonettes Gespräch mit der Schwester und der Frage ein, ob am nächsten Tag alles anders sein würde. Und das war es: Die Pfleger wirkten angespannt beim Frühstück. Zwei Tage lang hörte Lynnie nichts, doch dann sprach es sich herum wie ein Lauffeuer. Eine Insassin namens Wanda, die Wutanfälle hatte, mit Möbeln um sich warf und jeden schlug, der in ihre Nähe kam, saß in der Einzelzelle. Und als Tonette bei ihrer Unterhaltung mit der neuen Schwester erwischt wurde, verhängte man dieselbe Strafe über sie. Man steckte sie ausgerechnet in dieselbe Zelle wie Wanda, die nur darauf wartete, irgendetwas oder irgendjemandenin der Luft zu zerreißen. Die Geschichte drang nach draußen, und Onkel Luke erklärte den Journalisten, das Ganze sei ein unglücklicher Unfall gewesen; die diensthabenden Angestellten hätten nicht gewusst, dass die Zelle bereits mit Wanda belegt war. Die Polizei kam, um den Fall zu untersuchen, aber vom Personal sagte niemand etwas, und Tonette konnte nicht mehr reden. Sie war bereits auf dem Friedhof.
Nun schaute Lynnie sich im Speisesaal um. Kate wischte Essensreste von Ginas Gesicht – sie war nicht grob wie manch andere Pfleger, und sie sprach mit Gina. Als sich Kate umdrehte, um Sonia zu füttern, begegnete sie Lynnies Blick und lächelte. Es war kein trauriges, sondern ein Guten-Morgen-Lächeln. Ein Lächeln, das sagte: Ich freue mich, dich zu sehen.
Lynnie sagte sich: Es ist nur Kate. Sie hörte auf, an Tonette zu denken. Aber ihr war bewusst, dass es abgesehen von ihren Gründen dafür, Stillschweigen zu bewahren, noch etwas Schlimmeres gab. Seit sie die Geschichte mit Buddy erlebt hatte, ließ sie keinen Gedanken daran mehr zu. Und Kates Lächeln änderte nichts daran.
Lynnie zeichnete.
Kate beschäftigte sich am Schreibtisch. Das Radio spielte leise. Ein Mann sang: And I think to myself, what a wonderful world. Lynnie mochte dieses Lied, aber heute nahm sie es kaum wahr. Sie war zu sehr darin vertieft, den Nachthimmel in verschiedenen Blau- und Violetttönen zu malen. Die Mauer war grau und weiß, die Leiter braun. Sich selbst und Buddy zeichnete sie als rennende Silhouetten.
»So habe ich’s vermutet«, sagte Kate, als Lynnie fertig war. »Und was geschah dann?« Sie schob ein leeres Blatt vor Lynnie.
Lynnie starrte es an. Ihr war nicht klar gewesen, dass Kate mehr wissen wollte. Es gab mehr, aber bisher hatte sie immer nur eine Zeichnung gemacht, auch für Buddy. »Und was geschah dann?« hatte sie noch nie gemalt.
Kate wartete und schaltete das Radio aus, damit Lynnie sich besser konzentrieren konnte. Schließlich nahm sie ein Buch aus dem Regal. Nah-nah hatte auch solche Bücher gelesen – Bücher mit Bildern.
Kate nahm neben Lynnie Platz. »Dieses Buch erzählt eine Geschichte mit Zeichnungen«, sagte sie. »Jedes Bild zeigt einen Teil der Geschichte.« Sie blätterte Seite für Seite um. Das Buch handelte von einem gelben Erpel namens Ping, der mit seiner Familie auf einem Boot lebte. Eines Tages wurde er auf das Boot eines Fremden gelockt, und der Fremde stülpte einen Korb über ihn, so dass er nicht mehr weg konnte. Er war sehr aufgeregt und fürchtete, für immer gefangen zu bleiben. Aber ein kleiner Junge befreite ihn,
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