Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Saals und bewegte die Beine vor und zurück. Betty Lou schrie und sagte, das alles sei blöd. Lynnie selbst drehte sich immer wieder zum Fenster. Es war ihr unmöglich, es nicht zu tun, solange es hier drin so dunkel war und Clarence und Smokes unter der Lampe draußen standen. Clarence paffte an seiner Pfeife, Smokes wickelte eine Hundeleine um sein Handgelenk. Smokes hielt die Leine ganz straff und sprang mit dem Hund auf Clarence zu. Der wich voller Angst zurück, aber Smokes lachte. »Feigling«, spottete er. »Feiiiigling.« Clarence erstarrte, dann trat er ein paar Schritte auf den zähnefletschenden Hund zu und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf. Der Hund duckte sich wimmernd weg. Clarence wischte sich die Hand ab, als wollte er sagen: Das wäre erledigt. Smokes tippte anerkennend an einen unsichtbaren Hut.
Sie musste lügen. Sie konnte keinen Schirm aufspannen und davonfliegen.
Bald war es Routine. Doreen plapperte, bis sie einschlief, dann sah Lynnie zum Fenster und dachte an Buddy, der zur ihr kommen und sie davontragen würde. Er würde sie tragen müssen, denn mit jedem Tag wurde sie schwächer. Ihre Beine wollten sich nicht mehr bewegen, und ihre Arme wehrten sich gegen die Arbeit in der Wäscherei. Ihr war klar, dass die Sehnsucht diese Beschwerden verursachte,weil ihre Glieder schon früher so taub gewesen waren – einmal nach Mommys erstem Besuch ohne Nahnah. Mommy hatte ihr erklärt, dass Nah-nah auch in Zukunft nicht mitkam, weil Onkel Luke meinte, das wäre das Beste für alle. Und dann noch einmal, als ihr allmählich dämmerte, dass Mommy sie nie mehr besuchen würde. Seither fragte sich Lynnie, was schlimmer war: ein echter, kurzer Abschied, von dem man wusste, dass es ein Abschied war, oder der lange Abschied, bei dem man nicht wusste, woran man dran war. Nach dem kurzen Abschied von ihrem Kind musste sie jetzt, da schon so viel Schnee lag und die Sterne hell am klaren Winterhimmel glitzerten, fürchten, dass das mit Buddy ein langer Abschied war und sie wieder nur hoffen und bangen konnte.
Kate machte immer etwas, was man »beten« nannte, und Lynnie wusste, dass sie dabei um Gefälligkeiten bat. Einmal hatte sie versucht, zu erklären, wer Jesus Christus und die Jungfrau Maria waren, und Lynnie erinnerte sich, früher einmal etwas von Gott gehört zu haben – von Gott, der keinen Namen hatte. Dafür hatte er eine Melodie, die ihre Mutter immer gesungen hatte, wenn sie jeden Winter die Kerzen anzündete und sie alle die Schokoladentaler mit der Goldfolie aßen und Lynnie einen bunten Kreisel bekam, der sich ganz schnell drehte. Doch Kate sang nicht diese Melodie, und Lynnie kannte Gottes Namen nicht. Das hieß, dass sie nicht beten durfte.
Stattdessen stellte sich Lynnie Bilder vor, die nach den Seiten kommen würden, die sie bereits kannte. Sie sah Zeichnungen von dem Baby auf der Farm der alten Lady vor sich. Das Baby würde sitzen, stehen und eines Tages laufen lernen. Sie versuchte sich auszumalen, welche Farbe die Augen und die Haare des Kindes haben würden. Dieselbe wie ihre Augen und Haare? Oder … Nein. Die Kleine musste aussehen wie sie. Das Kind musste glücklichsein. Das Kind musste Freunde haben, die mit ihm sangen, auf blauen und grünen Pferden ritten und spielten.
Dasselbe machte sie auch mit Buddy. Aber sie sah ihn nur beim Traktorfahren, bei Reparaturarbeiten und mit Federn in der Hand vor ihrem geistigen Auge. Für ihn entstanden die Bilder nicht von selbst.
Lynnie saß am Schreibtisch und grübelte, als Doreen eines Tages in Kates Büro kam. Sie hatte gerade eine Zeichnung fertig – nicht von der Zukunft, die sie nicht kannte, sondern von der Vergangenheit, die sie sehen konnte. Bunte Federn, die sich in die Luft kräuselten wie Rauch.
Kate betrachtete die anderen Zeichnungen, die sie in der Schublade aufbewahrte, als Doreen mit ihrem Postsack über der Schulter hereinkam und verkündete: »Jemand sucht nach Lynnie.«
Kate schloss sofort die Tür. »Wovon sprichst du?«
Doreen erzählte, dass sie soeben im Verwaltungsbüro die Post abgeliefert hatte, als eine untersetzte Frau mit braunem Pferdeschwanz dort aufgetaucht sei und Maude erklärt habe, sie wolle Lynnie besuchen. »Maude fragte, ob sie eine Verwandte sei, und sie verneinte. Dann erklärte Maude, dass Besuche von Fremden gegen die Regeln verstießen, und die Frau ging.«
»Lynnie, weißt du, warum dich diese Frau sehen will?«, fragte Kate.
Lynnie schüttelte den Kopf. Aber sie wusste, dass der
Weitere Kostenlose Bücher