Die Geschichte eines schoenen Mädchens
würden sie und Buddy, sobald er zurückkehrte, auch wieder über diesen Weg fliehen. Aber Kate brauchte sich nicht zu verstecken, und der Tag war lau für diese Jahreszeit. Kate hielt ihr die Tür auf.
Die unterirdischen Gänge bestanden aus Beton und wurden durch nackte Glühbirnen erhellt. Lynnie mochte die dunklen Stellen nicht und war froh, dass schon bald nach dem Einstieg eine Birne an der Decke angebracht war. Hier unten brauchte man Mut. Buddy hatte seinen Mut bewiesen, als sie durch den Tunnel gelaufen waren, und ihnen damit zur Freiheit verholfen. Tonette hingegen hatte mit Mut gar nichts gewonnen.
»Eines frage ich mich immer wieder, Lynnie. Du warst drei Nächte weg, und ich hab mir die ganze Zeit entsetzliche Sorgen gemacht. Mir war klar, dass du von Nummer Zweiundvierzig nichts zu befürchten hast, aber es gibt so vieles da draußen in der Welt, was man nicht kontrollieren kann. Nicht einmal echt schlaue, fähige Menschen wie er.« Kate bog in den Korridor zur Rechten ein. »Eigentlich sollte ich gar nicht mit dir über das sprechen, was geschehen ist. Aber genau deswegen hab ich dich hierhergebracht. Man hat uns gesagt, dass du alles einfach so vergisst.«Sie schnipste mit den Fingern. »Aber das hast du nicht vergessen oder?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir schon.« Sie machte eine Pause »Möchtest du auch weiterhin daran denken?«
Lynnie nickte heftig.
»Das würde ich auch gern tun, wenn ich wüsste, woran ich denken soll.«
Lynnie kapierte gar nichts. Dies war eins der Dinge, in denen sich die Pfleger von den Insassen unterschieden: Sie sprachen in Rätseln. Hin und wieder logen sie, aber nicht indem sie nur etwas verschwiegen. Es ging nicht darum, dass sie verschleierten, wer sie waren. Nein, sie verbargen, was sie wussten.
Kate atmete tief durch. »Ich will dir helfen. Doch das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was vorgefallen ist. Ich hab in deiner Akte nachgesehen …«, sie deutete auf den Ordner, den sie aus Q-1 mitgenommen hatte, »… aber da sind einige Blätter herausgerissen. Lynnie, wenn wir heute in mein Büro gehen, zeichnest du mir dann auf, was passiert ist, als du davongelaufen bist?«
Lynnie dachte an Tonette. Nachdem alles vorbei gewesen war, forderten sie Lynnie auf, auf den Friedhof zu gehen, um Tonette Lebwohl zu sagen. Lynnie ging mit ein paar Pflegerinnen hin; sie standen auf dem Friedhof und sahen zu, wie ein Mann ein Grab aushob. Hätte Lynnie lesen können, hätte sie gewusst, dass auf den Grabsteinen keine Namen, sondern lediglich Nummern standen – fortlaufende Nummern – und dass Tonette die sechshundertzweiundsiebzigste Person war, die hier verstorben war. Arbeitsjungs senkten den Sarg mit Tonette ins Grab, und der blonde, bärtige Pastor las ein Gebet. Lynnie konnte nicht aufhören zu weinen. Alles, was sie verstand, war, dass Tonette kein Blatt vor den Mund genommen hatte.Lynnie erinnerte sich daran, was Nah-nah und sie getan hatten, als ihr Großvater gestorben war, sie wischte sich die Tränen aus den Augen, bückte sich und legte einen Kieselstein an den Rand des Grabes.
Damals hatte sie sich entschlossen, nicht mehr zu sprechen.
Sie gelangten zum richtigen Ausgang. »Lass dir Zeit zum Überlegen«, empfahl Kate. »Ich sehe dich nach dem Mittagessen, ja?«
Während des Essens dachte Lynnie über Kates Bitte nach. Es war laut im Speisesaal – wie immer. Es hatte eine Zeit gegeben, in der beim Essen Schweigen herrschen musste, aber um das durchzusetzen, gab es mittlerweile zu wenig Aufsichtspersonen, außerdem waren alle aufgeregt, weil am Abend ein Film vorgeführt werden sollte. Gewöhnlich wurden nur einmal in der Woche Filme gezeigt, aber heute war Feiertag.
Auch sonst war alles gleich geblieben im Speisesaal. Lynnie saß mit Doreen und Betty Lou zusammen, obwohl sie Betty Lou nicht mochte; die hatte eine heisere Stimme und sagte immer so böse Sachen.
Niemand durfte merken, dass Lynnie nachdachte – das konnte sie nicht riskieren. Aber denken war das Einzige, was sie konnte. Sollte sie Kate verraten, was passiert war? Kate schien das für sehr wichtig zu halten, und Lynnie hatte sie noch nie absichtlich enttäuscht. Und sie hatte viele Beweise dafür, dass Kate immer nur das Beste für sie wollte: Kate hatte zum Beispiel nie ein Wort über Lynnies Zeichnungen verloren oder über den Beutel mit ihren Schätzen oder über die heimlichen Treffen mit Buddy in ihrem Büro. Wenn Lynnie jemandem die Wahrheit anvertrauen würde, dann
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