Die Geschichte eines schoenen Mädchens
hilflos war, um zu kämpfen. Aber sie hätte gern wenigstens ein Büschel von dem weichen Haarflaum als Erinnerung behalten.
»Ich wünschte, ich hätte dich früher hier herausholen können«, sagte Kate, während sie die Kleider zusammenlegte und in dem Karton verstaute. »Aber ich bin froh, dass es jetzt doch so schnell geklappt hat. Ich denke, siehatten vor, dich bis zum Sanktnimmerleinstag hier zu behalten.«
Lynnie hatte keine Ahnung, was »Sanktnimmerleinstag« bedeutete, war jedoch nicht imstande, danach zu fragen.
»Ich habe nichts gemeldet«, fuhr Kate fort, »weil ich Angst hatte, dass sie dir dann noch Schlimmeres antun würden. Und mir auch.« Sie legte eine Pause ein. »Du weißt, dass sie uns nicht ungeschoren davonkommen lassen, wenn wir reden.«
Das wusste Lynnie nicht. Vor Jahren hatte sie gehört, dass einem Pfleger eines Morgens ein Insasse aufgefallen war, der ständig mit dem Finger auf seine Füße gezeigt hatte. Sie waren blutig und geschwollen, und obschon der Junge nicht sagte, was passiert war, reimte sich der Pfleger zusammen, dass er irgendjemanden so sehr beleidigt oder geärgert haben musste, dass ihm dieser auf den Füßen herumgetrampelt war. Jeder hätte der Übeltäter sein können – die Cottages hatten keine Schlösser –, und in der zweiten Schicht hatte niemand aufgepasst. Der Pfleger machte Meldung. Am darauffolgenden Morgen fand der Pfleger Fäkalien in seiner Kitteltasche, und in der Nacht wurde sein Ford mit einem Autoschlüssel zerkratzt. Er kündigte auf der Stelle und musste nach Elmira ziehen, um einen neuen Job zu finden. Der Insasse bekam Arrest. Es wurde nie herausgefunden, wer seine Füße traktiert hatte.
Kate schaute sich um. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der dies eine Kinderstation war. So viele kleine Babys, die nur wenige Wochen nach ihrer Geburt hergeschickt wurden. Das wenigstens ist Vergangenheit.« Sie schwieg einen Moment. »Doreen kam auch als Baby hierher, stimmt’s?«
Lynnie nickte. Man erzählte sich, dass Doreen berühmte Eltern hatte – eine glamouröse Schauspielerin und einbekannter Drehbuchautor –, die sie hergebracht hatten, als sie eine Woche alt gewesen war. Allerdings kamen sie nie zu Besuch, demnach wusste nicht einmal Doreen selbst, ob diese Geschichte stimmte. Einen Tag nachdem sie das Foto von Lynnies Familie gesehen hatte, brachte Doreen den Mut auf, Maude zu fragen, ob es in ihrer Akte ein Familienfoto gab. Maude machte ihr klar, dass die Akten die Insassen nichts angingen. Damals hatte Doreen mit ihren Fantasiespielen angefangen. Jedes Hemd war ein Ballkleid, Hosen wurden zu Seidenstrümpfen. Die Pfleger hatten den Spitznamen »Siames, If You Please« für sie erfunden. Doreen bevorzugte »Brigitte Bardot«.
Eine alte Pflegerin hatte Lynnie von der Kinderstation erzählt. Das Personal war so überlastet, dass es die Bettreihen entlangging und einem Kind nach dem anderen die Windeln wechselte, ob es nötig war oder nicht. Beim Füttern ging es genauso. Es war wie Fließbandarbeit.
Dachte Lynnie an die Tragödien, die sich ereignen würden, wenn jemand von ihrem Baby erfuhr, fiel ihr auch die Kinderstation ein. Aber es gab noch Schlimmeres, als in Q-1 aufzuwachsen.
»Das wär’s«, verkündete Kate und schloss die Klappen des Kartons. »Wir können los.« Sie schaute auf ihre Uhr und setzte weniger ernst hinzu: » Natürlich bin ich dem Zeitplan voraus.«
Wie »Sanktnimmerleinstag« war auch »dem Zeitplan voraus sein« ein Begriff, den Lynnie nicht verstand. Beides musste etwas mit Zeit zu tun haben, und für Lynnie war Zeit ohnehin etwas Verwirrendes. Abgesehen davon, dass sie die Uhr nicht lesen konnte, wusste sie nichts von Kalendern und noch weniger von der Vergangenheit. Sie wusste nur von Buddy, dass die Sterne im Laufe der Nacht über den Himmel wanderten, und kannte die Jahreszeiten. In ihrem Verständnis war Zeit etwas, was anderen Leutengehörte. Deshalb konnten die anderen etwas damit anfangen und sie nicht.
Aus diesem Grund hinterfragte sie auch nicht Kates Hast, nachdem sie Lynnies Karteikarte von Janice geholt hatte. Sie waren »dem Zeitplan voraus«, das hieß offenbar, dass sie sich beeilen mussten. Und Lynnie wunderte sich, dass Kate nicht den direkten Weg einschlug. Stattdessen ging sie zu der Rampe voraus, über die man zum unterirdischen Gang gelangte. Manchmal wurden die Insassen an Regentagen oder bei Schnee durch die Tunnels geführt. Man konnte sich hier auch gut verstecken, deshalb
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