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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Lynnie auf das Bett setzen konnte, und holte einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche. Jemand tut etwas für mich , dachte Lynnie. Doch das Glücksgefühl, das ihr dieser Gedanke schenkte, konnte die große Trauer nicht vertreiben.
    Die Schranktür war so verbeult, dass sie klemmte. Kate hatte Mühe sie aufzubringen, doch als es ihr endlich gelang, warf Lynnie einen Blick in die Fächer. In einem lagen ihre ganzen Schätze. Lynnie schnappte nach Luft, als Kate einen nach dem anderen aufs Bett legte. Als Erstes das weiße Kleid von der alten Lady – der Stoff war so fein und zart wie Spinnweben. Dann das Bündel mit den Sachen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte: ein Krinolinenkleid, eine dreiviertellange Hose, ein Badeanzug, eine Bluse, ein Paar Schuhe und eine Garnitur Unterwäsche – aus all dem war sie längst herausgewachsen. Kate hielt Lynnie die Fotografie hin, die im Schrank gelegen hatte. Sie zeigte ihre Familie vor der Geburt der Zwillinge: Daddy und Nah-nah standen vor dem Aquarium, Mommy kauerte neben Lynnie, die mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden saß. Sie hatte die Augen halb geschlossen, den Mund halb offen. Mommy stützte sie, weil sie noch nicht allein sitzen konnte. Lynnie schob das Foto von sich.
    Dann entdeckte sie ganz hinten in dem Schrankfach den Beutel mit ihren Kronjuwelen.
    »Möchtest du nachsehen, ob noch alles da ist?«, fragte Kate, und Lynnie nickte. Kate knotete die Schnur des Beutels auf und nahm eine Kostbarkeit nach der anderen heraus.
    Das blaue Plastikpferd mit der grünen Mähne, das ihr Nah-nah an dem Morgen, an dem sie sie hier an diesem schlechten Ort zurückließen, geschenkt hatte. Lynnie musste oft daran denken, wenn sie die Pferde auf der Weide zeichnete, was gar nicht so leicht war, weil sie sich bewegten. Dieses hatte ein Vorderbein gehoben und stand so still wie Nah-nah selbst, die in Lynnies Gedächtnis nie älter wurde.
    Der Schnürsenkel, den Lynnie stibitzte, nachdem Daddy neue in seine Schuhe gefädelt hatte. Er wollte ihn wegwerfen, aber Lynnie stürzte sich auf ihn, als er auf dem Weg zum Abfalleimer war. Er schien verärgert zu sein, doch dann schmolz der Blick in seinen Augen, und er bückte sich, um ihr den Schnürsenkel in die Hand zu drücken und ihre Finger darum zu schließen. So, wie er damals ausgesehen hatte, erinnerte sie sich am liebsten an ihn.
    Das Armband mit den Glücksanhängern, das Mommy ihr bei einem Besuch hier in der Schule mitgebracht hatte. Bei jedem Besuch weinte Mommy bitterlicher, so dass Lynnie heftiger um sich treten musste, um die Tränen zu vertreiben. Schließlich hatte Mommy immer eine Sonnenbrille auf, weil ihre Augen so verschwollen waren. Sie schenkte Lynnie das Armband und sagte: »Das kannst du tragen, wenn du ein großes Mädchen bist.« Nachdem Mommy die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und davongeeilt war, verstaute die Pflegerin das neue Armband im Schrank. Lynnie hatte es noch nie getragen. Und ganz allmählich begriff sie, dass Mommy nie mehr kommen würde.
    Und, oh! Die Federn . Sie waren alle von Buddy. Da war der Strauß mit den drei weißen Federn, den er ihr auf ihrer ersten gemeinsamen Traktorfahrt in die Hand gegeben hatte, und die großen Federn – braune, blaue oder gelbe, einige hatten schwarze Streifen oder braune Punkte. Jedes Mal, wenn Buddy etwas in der Wäscherei reparieren musste, hatte er eine Feder mitgebracht. Die orangefarbenen Büschel hatte er Doreen für sie mitgegeben, wenn die beim Postverteilen an der Scheune oder der Werkstatt vorbeigekommen war. Die blau, grün und violett schillernden Federn hatte er ihr mit einer Verbeugung überreicht. Und da war ihre Lieblingsfeder – die rote, die vom Himmel ins Maisfeld gesegelt war.
    Da war noch etwas in dem Beutel: der metallene Bleistiftspitzer, den Doreen im Büro von Onkel Lukes Sekretärin Maude geklaut hatte. Lynnie hoffte, ihn einmal benutzen zu können, wenn sie jemals das Glück hatte, eigene Buntstifte zu besitzen. Kate zog die Augenbrauen hoch, als sie den Spitzer sah. Dann sagte sie: »Geschieht ihnen recht«, und steckte ihn ganz unten in den Beutel.
    Als Kate die Schätze einsammelte, dachte Lynnie jedoch nicht an Stifte. Sie hatte keine Zeit gehabt, eine Erinnerung an das Baby an sich zu nehmen. Dennoch trug sie noch immer viel von ihrer Tochter in sich: das Gefühl, sie im Arm zu halten, den Anblick des ahnungslosen schlafenden Gesichts, in dem sich noch nicht abzeichnete, was Lynnie längst wusste: dass dieses Baby viel zu

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