Die Geschichte eines schoenen Mädchens
und Ping fand wieder nach Hause.
Lynnie verstand, was ihr vor Jahren ein Rätsel war: Man konnte ein Buch nicht einfach irgendwo aufklappen. Man musste ganz vorn anfangen und eine Seite nach der anderen umschlagen, eine führte zur nächsten, und die Geschichte wurde immer spannender. Sie verglich es mit Mais, der aus der Saat, die man im Frühling setzte, entstand und unaufhörlich zu hohen Halmen heranwuchs, hinter denen man sich im Herbst verstecken konnte. Eine Geschichte wuchs auch.
Dieses neue Verständnis brachte Lynnie dazu, neue Zeichnungen anzufertigen. Sie malte den Bunker, die Geburt des Babys, dann die Szene, wie sie im strömenden Regen die Plakate des Autohändlers stahlen. Sie zeichnete die Brücke und die Straßenkreuzung mit dem Leuchtturmmann-Briefkasten, dann die alte Lady.
»Und dann?«, drängte Kate. »Was ist dann passiert?«
Lynnie zeichnete noch ein letztes Bild. Die alte Lady stand in der Haustür. Das Baby – es war durch ein Dachbodenfenster zu sehen – schlief in einem Korb. Die Limousine fuhr weg.
Kate betrachtete diese Zeichnung genauer, dann wandte sie sich an Lynnie: »Du hast das Baby dort gelassen, weil du es schützen wolltest?«
Lynnie nickte.
»Aber warum? Du kanntest die Frau doch gar nicht.«
Lynnie suchte aus dem Stapel die Zeichnung mit dem Leuchtturmmann heraus.
Kate musterte sie. »Das verstehe ich nicht.«
Lynnie hätte Kate gern vom Meer erzählt, von dem Tag, an dem ihre Eltern eine Strandparty besucht hatten und Daddy zu Nah-nah sagte: »Es ist so schönes Wetter, Hannah. Warum machst du nicht mit Lynnie einen Spaziergang?« Und als sie weit weg von den Eltern am Strand umherliefen, zog ganz plötzlich ein Unwetter auf. Sie rannten zu dem hohen Turm, fanden eine Tür und kletterten immer rundherum die Treppe hinauf bis ganz nach oben. Dort beobachteten sie durch ein Fenster das Gewitter, und Nah-nah sagte: »Hier oben kann es uns nichts anhaben, und du bist bei mir sicher.«
Lynnie hatte den Turm am Meer einmal für Buddy gezeichnet. Er starrte das große Wasser lange an und rätselte, was das wohl sein mochte. Sie zeichnete einen weinenden Menschen und deutete erst auf die Tränen, dann auf das Meer. Er faltete das erste Bild zusammen und steckte es in die Tasche.
Leider konnte Lynnie all das nicht in Worte fassen.
Kate sagte: »Schön, ich kapiere zwar die Zusammenhänge nicht, aber willst du, dass ich irgendetwas davon melde?«
Lynnie schüttelte den Kopf.
»Ich wünschte, du würdest Ja sagen, Lynnie.«
Das Kopfschütteln wurde heftiger.
»O Lynnie!«, seufzte Kate und schaute aus dem Fenster. » Warum nicht? «
Lynnie rollte ihre Stifte zwischen den Händen.
»Also gut. Ich glaube, ich kann deine Gründe erraten, und falls ich recht habe, kann ich dich verstehen. Es gefällt mir trotzdem nicht.«
Lynnie sah auf.
»Dachtest du, dein Baby müsste dasselbe durchmachen wie die anderen Säuglinge, die hier gelebt haben? Die auf der Kinderstation?«
Lynnie musterte sie lange. Plötzlich regte sich etwas in ihrem Inneren. Das hatte sie schon einmal erlebt – hier in diesem Büro, als Buddy die Arme hin- und herbewegte, als würde er ein Baby wiegen und mit dem Gesichtsausdruck fragte: Was ist passiert ? Damals tat sie, was sie auch tun würde, wenn Kate ihr dieselbe Frage stellte: Sie deutete aus dem Fenster auf das Jungscottage, das neun Monate zuvor unter Wasser gestanden hatte.
Wer? , hatte Buddy gefragt.
Und sie hatte Jungs gezeichnet, die um das Cottage herumstanden – es war zu dunkel, um irgendwelche Gesichter zu erkennen.
Buddy hatte wütend an den Fenstergittern gerüttelt. Am nächsten Tag fing er an, ihre Flucht zu planen.
Sollte sie dasselbe noch einmal machen? Wenn man eine Seite umblätterte, konnte man dann wieder zurück? Nein. Sie war die neue Lynnie. Sie wusste, wie sich eine Lüge anfühlte.
Kate vergewisserte sich noch einmal: »Deshalb hast du das Baby bei der Frau gelassen, richtig?«
Lynnie wandte den Blick ab und nickte. Ich musste lügen , dachte Lynnie, während Kate sie zum Gemeinschaftscottage brachte, in dem die Filme vorgeführt wurden. Die Sonne war untergegangen, und Lynnie sah Clarence und Smokes mit den Hunden, als die Außenleuchten angingen. Gewöhnlich setzte sie sich bei den Filmvorführungen weit weg vom Fenster, aber heute kam sie zu spät. Sie versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren, auf die singende Lady, die mit aufgespanntem Regenschirm fliegen konnte. Doreen saß auf der anderen Seite des
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