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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Johannesevangelium sagte: »So wie ich euch geliebt habe, so liebet eure Nächsten«, und im Matthäusevangelium: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Sie hatte ihre Kinder gelehrt, dass alle, vom einbeinigen Veteran, der die Orgel in der Kirche spielte, über den grauhaarigen alten Hausmeister in der Grundschule bis hin zu den anderen Kindern, Freundlichkeit verdienten. Wie konnte sich Kate dann weigern, mehr über das Baby in Erfahrung zu bringen – auch wenn Lynnie sie gebeten hatte, es nicht zu tun?
    Doch Kate fühlte sich kaum tugendhaft, als sie der Old Creamery Road folgte. Nein, sie empfand Reue, weil sie drei Monate gezögert hatte. Eine Weile lang hatte sie sich eingeredet, sie würde zur Tat schreiten, sobald sie ein wenig mehr Zeit hatte. Aber gestern, als sie nach einer Vierzehn-Stunden-Schicht nach Hause fuhr, musste sie sich eingestehen, dass es weit weniger noble Gründe für ihr Zaudern gab. Suzette hatte recht: Wenn Kate diese Geschichte ans Licht brachte, würde sie höchstwahrscheinlich ihren Job verlieren. Drei lange Monate hatte sie nachts in ihrem Bett gelegen, die Wasserflecken an der Decke betrachtet und sich Sorgen wegen Melindas Zahnspange und Jimmys Chancen auf einen Platz im College gemacht, ohne an das Baby zu denken.
    Gestern sprach sich unter ihren Kollegen herum, dass Doreens Eltern eine Show am Broadway eröffneten. Kate erschien es unglaubwürdig, dass zwei Prominente, über die die Zeitungen so oft berichteten – eine der meistfotografierten Filmschauspielerinnen aus Hollywood und ein gefeierter Autor –, ein Kind hatten, das in der Presse mit keinem Wort erwähnt wurde; sie hielt das Ganze fürein Gerücht. Am gestrigen Tag trieb sie jedoch etwas an, was sie sich selbst nicht erklären konnte. So etwas widerfuhr ihr von Zeit zu Zeit, und die anderen lachten darüber und nannten es Intuition. Sie glaubte jedoch, dass ihr in Wahrheit die Hand Gottes den Weg wies. Sie bat eine Freundin, die in dem Archiv arbeitete, in dem die Akten der Insassen und alle Dokumente aufbewahrt wurden, ihr heimlich einen Schlüssel zu überlassen, und in der letzten Nacht schlich sie sich nach ihrer zweiten Schicht in dieses Archiv.
    Der Schrank mit Doreens Unterlagen stand gleich neben dem Fenster. Kate nahm den Ordner an sich und hielt ihn ins Licht der Turmuhr. Da standen die Namen der zwei Berühmtheiten. Arme Doreen. Sie hatte Eltern, die vier Häuser besaßen, zwei Oscars und einen Pulitzerpreis gewonnen hatten. Doreen hingegen hatte nichts außer ein altes Transistorradio, das sie im Müll gefunden hatte und unter ihrem Bett versteckte.
    Kate dachte: Ich muss nachforschen, ob es Lynnies Tochter gutgeht. Wenn nicht, dann werde ich für sie tun, was irgendjemand für Doreen hätte tun sollen: sicherstellen, dass ihr kein Leid geschieht.
    Jetzt, als sie sich die fünfte Zigarette nach dem Überqueren der Brücke anzündete, entdeckte sie ein Hinweisschild am Straßenrand. In einer Meile würde sie zu der Kreuzung mit der Straße nach Scheier Pike kommen. Sollte sie auf der Old Creamery Road bleiben oder abbiegen?
    Sie warf einen Blick auf die Zeichnungen. Nach der mit der Brücke kam eine mit zwei Gestalten, die mit dem Baby durch einen Wald liefen. Aber Wälder gab es eher auf der Route nach Norden als im Westen. Ein Jammer, dass jemand die wichtigen Seiten aus Lynnies Akte herausgerissen hatte. Hätte Kate doch nur den Mutaufgebracht, Clarence zur Rede zu stellen. Aber Clarence hätte ihre nie und nimmer weitergeholfen. Einmal hatte er sie ausgelacht, als er erfuhr, dass sie versuchte, einigen geschickteren Insassen den Umgang mit einem Weberkamm beizubringen. »Als ob sie das zu normalen Menschen machen würde«, hatte er gespottet. Kate hätte ihm gern klargemacht, dass es ihr darum ging, dafür zu sorgen, dass die Patienten etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen konnten, aber sie hatte geschwiegen, genau wie sie über dieses Vorhaben geschwiegen hatte. Doch dieses Mal fürchtete sie nicht, als dumm oder naiv abgestempelt zu werden, sie wollte Lynnies Geheimnis nicht preisgeben.
    Kate drückte ihre Zigarette aus und entschied, auf der Old Creamery Road zu bleiben.
    Sie blätterte zur nächsten Zeichnung. Offenbar hatte die alte Lady einen auffälligen Briefkasten. Kate fuhr langsamer. Was sollte sie tun, wenn sie das Haus der alten Lady gefunden hatte? Letzte Nacht hatte sie in Gebeten um eine Eingebung gefleht und schließlich eine

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