Die Geschichte eines schoenen Mädchens
»Allmächtiger Vater, bitte beschütze dieses Kind, wo immer es sein mag. Dringe in sein Herz, damit es dich in Zukunft immer finden kann.«
Das Schneetreiben wurde dichter. Kate schaltete die Scheibenwischer und das Radio an und war froh, dass sie auf dem Weg zurück nach Well’s Bottom kaum einem anderen Fahrzeug begegnen würde. Dann dachte sie daran, wie es sein würde, wenn sie nach Hause kam und in den Spiegel schaute – oder Lynnie morgen gegenübertreten musste. Bestimmt sah sie keine Anklage in Lynnies Augen, aber ihr eigenes Gewissen würde sie immer plagen.
Sie erreichte die Straße. Erst jetzt legte sie den Schalter für die Scheinwerfer um, und da sah sie ihn: einen jungen Mann am Briefkasten. Er schien die Post aus dem Kasten zu nehmen. Sein Buick stand mit laufendem Motor und offener Fahrertür am Straßenrand. Er trug eine Jacke von der Well’s Botom Highschool.
Kate drehte das Radio aus und hörte seines. Deshalb schaute er sie so erschrocken an – er hatte ihren Motor nicht gehört.
Sie kurbelte das Fenster herunter.
»Kann ich mit Ihnen reden?«, fragte sie.
»Sind Sie hier, um sich die Farm anzusehen, Ma’am?« Er wirkte selbstbewusst.
Kate warf einen Blick auf die Zeichnungen, dann musterte sie sein Gesicht. »Ich suche die Lady, die hier wohnt.«
Der Junge nahm eine lässige Haltung an. »Ich bin der Verwalter. Ich weiß nichts von ihr – nur, dass sie die Farm verkaufen möchte.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Wie ich schon sagte, ich kümmere mich nur um die Farm.«
»Sie müssen doch etwas wissen.«
»Wirklich nicht, ich schwör’s.«
»Wohin bringen Sie dann diese Briefe?« Kate deutete mit dem Finger.
Er schaute kurz auf seine Hände.
Kate fuhr fort: »Hören Sie, ich habe nicht vor, irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Ich will nur etwas erfahren über …« Sie schürzte die Lippen und fingerte an dem goldenen Kreuz herum, das um ihren Hals hing. »Ich möchte mich nur vergewissern, ob alles in Ordnung ist.«
»So in Ordnung, dass die Lady die Farm verkaufen möchte.«
Kate betrachtete das Schneegestöber und dachte daran, was Lynnie wollte. Aber dies hier war ihre einzige Gelegenheit. Wenn sie jetzt nicht hartnäckig blieb, würde sie den Rest ihres Lebens im Feuer der Schuldgefühle verbringen.
»Nein«, sagte Kate. »Ich meine, ob es ihr gutgeht.«
Der Junge sah sie verständnislos an.
Kate flüsterte: »Dem kleinen Mädchen.«
Oliver brachte Kate zu Hansberrys Pharmacy, und in den darauffolgenden drei Stunden unterhielten sich Kate und Eva, während sich draußen der unerwartete Frühjahrsschnee immer höher auftürmte. Sie tranken viel Tee, und als sich Kate erhob, um sich zu verabschieden, hatten sie eine Entscheidung getroffen. Sie würden Lynnie nicht erzählen, was mit dem Baby war, und Martha auch nicht bitten, das Kind zurückzubringen. Sie wollten als Kuriere fungieren und sich nur gegenseitig Bericht erstatten, ob sich das Kind gut entwickelte und ob Lynnie bei ihrer Meinung blieb. Sollte es dem Baby schlecht gehen oderLynnie ihren Standpunkt ändern, würden sie ihr Versprechen der Geheimhaltung brechen; ansonsten wäre es richtig, Stillschweigen zu wahren. Sie fassten sich an den Händen, dann umarmten sie sich. Es schneite immer noch, als Kate auf die Straße trat. Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und straffte entschlossen die Schultern, dann eilte sie in die Nacht hinaus.
T E I L II
Gehen
Samariter-Finder
1969
Rückbänke von Polizeiautos wurden ihm allmählich richtig vertraut.
Da war er, der Geruch, der Homan jedes Mal begrüßte: Zigarettenrauch, Leder, Schweiß, Kaffee. Und am Morgen – einem kühlen Morgen auf dem flachen Land mit Gestrüpp und Gras – kamen Doughnuts hinzu, was sein Magenknurren noch verstärkte. Er schlug sich wütend auf den Schenkel. Fünfmal warst du leichtsinnig oder zu hungrig, um aufzupassen. Und jetzt sitzt du wieder hier.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf das Gitter, das die Vordersitze von den hinteren trennte. Dabei erhaschte er einen Blick auf sich selbst im Rückspiegel. Was für ein Anblick! Haare wie ein ungeschorenes Schaf, dreckverschmiertes Gesicht, fleckiges Hemd, wilder Blick. Er schüttelte angewidert den Kopf. Vielleicht war es gut, dass das schöne Mädchen nur in seinen Gedanken bei ihm war.
Er versuchte sich zu beruhigen, während der Wagen anfuhr. Er hatte getan, was er konnte – genau wie immer. Er hatte die Hände gehoben und getan, was
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