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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Antwort erhalten: Sie würde sagen, dass sie in Lynnies Schule arbeitete und nicht hier sei, um das Kind mitzunehmen, sondern um nachzufragen, ob die alte Lady Hilfe brauchte. Auf diese Weise konnte sie verhindern, dass die alte Lady Dr. Collins oder die Polizei anrief. Aber was, wenn sie wirklich Hilfe brauchte? Oder Kate das Baby aushändigte? Das plötzliche Erscheinen eines Säugling in ihrer Familie würde die Gerüchteküche in Well’s Bottom anheizen. Kate hätte Pater Geoff um Rat fragen sollen. Vielleicht kannte er eine Familie weit ab von der Stadt, in der ein Kind willkommen wäre, oder eine diskrete Adoptionsagentur. Doch aus unerfindlichen Gründen wollte Lynnie, dass ihre Tochter bei der alten Lady blieb und dass man die Spur der Kleinen nicht zu ihr zurückverfolgenkonnte. Sollte das Kind in eine andere Familie kommen oder durch eine Agentur vermittelt werden, wäre Kates Beteiligung an dem Vorgang nicht zu verheimlichen, und selbst wenn Pater Geoff vorsichtig vorginge, würde es eine Verbindung geben, die zu Lynnie führte. Vielleicht ging es dem Baby ja auch gut dort.
    Sie fuhr um eine Kurve, und da war er: ein Briefkasten mit Verzierung. Ein Leuchtturm. Richtig, dachte sie nach einem Blick auf die Zeichnung. Der Leuchtturm war zur Seite gelegt – ein Zeichen, dass er nicht mehr auf den Postboten wartete, doch abgesehen davon sah er genauso aus, wie ihn Lynnie gezeichnet hatte – sogar das Gesicht des Leuchtturmmannes hatte sie so detailgetreu getroffen, dass Kate laut sagte: »Du bist schon etwas ganz Besonderes, Süße.«
    Sie bog in die Zufahrt ein und fuhr über den Feldweg.
    Auch die Landschaft hatte Lynnie in ihrem letzten Bild exakt wiedergegeben. Felder und Weiden zu beiden Seiten, und am Ende der Zufahrt ein schlichtes Haus mit Veranda und kleinen Fenstern.
    Als Kate vor dem Haus stehen blieb, sah sie etwas, was auf der Zeichnung fehlte: ein Schild neben den Stufen zum Eingang: »Zu verkaufen«.
    Sie stieg aus. Obwohl der Frühling kurz bevorstand, wehte ein schneidender Wind. Kate zog den Mantel fester um sich. Durch das winzige Fenster entdeckte sie Möbel. Sie klopfte an. Der Wind rauschte so laut, dass sie eventuelle Schritte nicht hören könnte. Also klopfte sie weiter, bis sie meinte, es wäre genug.
    Sie schützte das Feuerzeug mit der Hand und steckte sich eine Zigarette an, dann ging sie die Verandastufen hinunter.
    Dort war der Wald, in den Nummer Zweiundvierzig geflohen war. Wo immer er jetzt auch sein mochte, in derNähe würde er sich nicht mehr aufhalten. Kate dachte daran, wie leer sie sich gefühlt hatte, als ihr Mann anfing, abends länger in der Kartonagenfabrik zu bleiben. Leer und doch voller Furcht, weil sie spürte, dass ihn in Wirklichkeit etwas anderes als die Arbeit davon abhielt, nach Hause zu kommen. Sie brauchte Monate, um sich an den Gedanken, dass er nicht bei der Familie war, zu gewöhnen – bis sie an jenem schrecklichen Abend von einem inneren Trieb gezwungen wurde, sich Klarheit zu verschaffen. Es war höchste Zeit. Sie brachte die Kinder zu ihrer Mutter und fuhr zur Fabrik. Der Vorarbeiter war erstaunt, dass ihr Mann von Überstunden gesprochen hatte – »seit Ewigkeiten macht hier niemand mehr Überstunden«, sagte er –, und sie fuhr mit wachsender Gewissheit eine Straße von Well’s Bottom nach der anderen ab, um nach seinem Auto zu suchen. Schneller und immer schneller. Endlich wurde sie fündig; der Wagen parkte vor Jeanette Dorys Apartment, und ihr Mann führte die hochschwangere Jeanette die Treppe hinauf.
    Ein mehr als schrecklicher Anblick. Doch um wie viel schlimmer musste es für Lynnie sein – sie hatte ihre einzige Liebe und ihr Baby in ein und derselben Nacht verloren.
    Kate schüttelte den Kopf. Ihr Atem bildete kleine Wolken, und es fing an zu schneien. Sie ging um das Haus herum – dort befanden sich eine Scheune, ein Hühnerstall und ein Geräteschuppen. Im Haus war alles dunkel. Weit und breit war kein Licht zu sehen.
    Das hast du dir selbst zuzuschreiben , dachte sie auf dem Rückweg zu ihrem Wagen. Nein, sie könnte demjenigen, der die Akte manipuliert hatte, die Schuld geben oder den Lebenshaltungskosten, Abbys schiefen Zähnen oder der Angst, dass Jimmy zum Militär musste. Sie könnte sich auch vorwerfen, dass sie Lynnies Entschluss, ihremKind ein besseres Leben zu ermöglichen, geduldet und zugestimmt hatte, deswegen absolutes Stillschweigen zu wahren.
    Während sie das Auto die Zufahrt hinunterrollen ließ, betete sie:

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