Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Sie wolle nur ein wenig schmökern, fügte sie hinzu, um ihre Bitte spontan und unbedeutend klingen zu lassen. Pete sollte nicht wissen, dass etliche Bücher für sie bereitlagen – einige davon waren sogar von fremden Bibliotheken angefordert worden.
»Nicht, solange wir nachher in die Konditorei gehen«, erwiderte Pete.
In den folgenden Wochen las Martha bei all ihren Bibliotheksbesuchen, während Julia und Pete im Kinderlesesaal saßen.
Sie informierte sich über die Geschichte der Heime, über ihre Anfänge als sogenannte Armenhäuser, in denen Menschen mit Behinderungen, gesellschaftliche Außenseiter, Waise und Kriminelle gleichermaßen untergebracht waren und aus denen dann die grässlichen Anstalten von heute wurden: riesige Einrichtungen, in denen Tausende Individuen tatenlos ihre Tage fristeten. Chronischer Geldmangel führte dazu, dass die Gebäude verfielen, dass es zu wenig Personal gab, die medizinische Versorgung dürftig war und dass Schmutz und Missbrauch vorherrschten. Martha musste ständig an Lynnie denken, die so schön in dem weißen Kleid und so glücklich an der Seite von Nummer Zweiundvierzig ausgesehen hatte. Martha stellte sich vor, wie es ihr wohl gehen mochte.
Am Ende eines jeden Bibliotheksbesuches, wenn Julia und Pete ihr von der Tür aus zuwinkten, sagte sich Martha: Etwas muss sich ändern . Sie klappte ihr Buch zu und stand benommen auf.
Während die Bäume kahl wurden, ließ Martha der Gedanke an das Grauen, über das sie gelesen hatte, nicht mehr los. An ein Grauen, das kein Ende haben würde, solange sich niemand aufraffte, etwas dagegen zu unternehmen. Sie konnte sich kaum auf ihre Handarbeit oder das Kochen konzentrieren. Manchmal, wenn sie mit Julia vor dem Fernseher saß, sah die Kleine, dass sie ihr Strickzeug reglos in den Händen hielt, und fragte: »Was ist los, Grammy?«
»Ich bin nur ein bisschen gedankenverloren«, erklärte Martha dann.
»Keine Angst«, war Julias Antwort. »Du kannst nicht verlorengehen. Ich bin ja da.«
Einmal, als Pete sich bereit erklärte, auf Julia aufzupassen, fuhr Martha zu einer dieser Einrichtungen. Der Weg dahin war nicht leicht zu finden, und selbst die Leute in der örtlichen Tankstelle konnten ihr nicht genau sagen, wie man hinkam. Es gelang ihr dennoch, und sie saß stundenlang vor dem Tor in der hohen Steinmauer in ihrem Wagen. Das Areal war riesig, und innerhalb der Mauern lebten unendlich viele Lynnies. Zudem gab es im ganzen Land verstreut noch viele solcher unmenschlichen Anstalten.
Auf dem Heimweg über die Landstraßen kam sie an einer Kapelle vorbei. Earl hatte seinerzeit deutlich gemacht, dass sie nie wieder in die Kirche von Well’s Bottom, der diese hier sehr ähnlich sah, gehen würden. Martha stellte den Wagen ab und ging zum Eingang. Die Tür war nicht verschlossen, und als Martha eintrat, betrachtete sie das blaue und rote Licht, das durch die Buntglasscheiben drang, und sah, wie die an den Wänden aufgereihten Kerzendie Bänke beleuchteten. Sie blieb eine Weile an der Tür stehen, und als diese hinter ihr ins Schloss fiel, wusste sie, dass sie allein war. Sie setzte sich in eine Bank. In der Stille und dem vielfarbigen Licht blätterte sie in den Gesangs- und Gebetbüchern, fand jedoch nichts, was zu dem passte, was sie so sehr beschäftigte. Also legte sie den Kopf auf die Hände und wartete auf Worte für ein Gebet. Sie saß lange so da, und irgendwann nahm eine Frage in ihren Gedanken Gestalt an.
Was kann ich, ein einzelner unbedeutender Mensch, tun?
Es war Mitte November. Pete hatte sich schon ein paar Wochen nicht blicken lassen, doch eines Nachmittags erschien er und fragte, ob Martha und Julia Lust hatten, mit seinem Motorboot aufs Meer hinauszufahren. Julia hatte oft erklärt, dass sie unbedingt einmal mit einem Boot aufs Wasser wollte. »Es wäre uns ein Vergnügen«, antwortete Martha.
Pete wirkte ernst, als er sie abholte. Er äußerte genau die richtigen Dinge: »Du siehst hübsch aus, Ju-Ju.« Sie trug ein rosa Kleid und bunte Perlen. »Ich wollte mich nicht rarmachen«, sagte er zu Martha. Seine Stimme klang schleppend, und er war unrasiert. Sie brauchten fünfzehn Minuten bis zum Oyster Pond, und als Julia mühsam den Namen des Bootes las: »Two If By Sea«, und Pete erklärte: »Ann war eine Nachkommin von Paul Revere«, wusste Martha, was geschehen war.
»Es tut mir leid«, sagte sie, als sie an Bord waren.
»Was tut dir leid?«, fragte Julia, die Rodney eine Schwimmweste umband.
Pete sah
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